Sarin-Skandal seit Jahren vertuscht

■ Neue Dokumente zeigen: Die israelische Boeing, die 1992 bei Amsterdam abstürzte, hatte Stoffe zur Giftgasherstellung an Bord

Berlin (taz) – Das israelische Flugzeug, das im Oktober 1992 kurz nach dem Start über der Amsterdamer Satellitenstadt Bijlmer abstürzte, hatte 240 Kilogramm eines Grundstoffes an Bord, der zur Herstellung des schon in winzigen Dosen tödlichen Nervengases Sarin benötigt wird. Das geht aus einem Teil der Frachtbriefe hervor, der jetzt der niederländischen Tageszeitung NRC Handelsblad zugespielt wurde. Danach hatte die Boeing 747 der Fluggesellschaft El Al zehn Behälter mit jeweils 18,9 Litern Dimethyl-Methyplphosphat (DMMP) geladen, die dem Institut für Biologische Forschung in Ness Ziona bei Tel Aviv geliefert werden sollten. Niederländische Experten vermuten, das Institut habe mit Hilfe des Stoffes in größerem Rahmen die Wirkungsweise von Sarin untersuchen wollen.

Nach dem Fund ist in den Niederlanden die Aufregung, die sich seit dem katastrophalen Absturz vor fast genau sechs Jahren nie ganz gelegt hatte, erneut groß. 43 Tote wurden damals identifiziert, 250 Menschen als vermißt gemeldet. Seitdem versuchen Anwohner, die an diffusen Gesundheitsbeschwerden leiden, Klarheit über die Fracht zu erlangen, deren offizielle Papiere aus unerfindlichen Gründen verschwunden blieben.

Nachdem es zunächst geheißen hatte, das Flugzeug habe holländische Tulpen sowie Parfüm geladen, tauchten schon bald nach dem Absturz Dokumente auf, aus denen hervorging, daß eine größere Menge Metall an Bord war. „Walkmen“, hieß es dann, sowie „Ersatzteile für Motoren“. Die Spekulationen wurden erneut angeheizt, als im vergangenen Herbst in dem Hangar, in dem die Wrackteile aufbewahrt worden waren, erhöhte Radioaktivität gemessen wurde. Damals stellte sich heraus, daß in den Tragflächen der Boeing eine größere Menge abgereichertes Uran verbaut worden war.

Doch auch nach dem Fund blieben viele Fragen offen, die weder vom niederländischen Verkehrsministerium noch aus Israel beantwortet wurden: So wurde nie geklärt, warum der Pilot um jeden Preis versuchte, den Flughafen Schiphol zu erreichen, anstatt über dem Ijsselmeer notzulanden, noch wer die „Männer in weißen Anzügen“ waren, die Augenzeugen nach dem Absturz an dem Wrack gesehen haben wollen. Unklar blieb auch, warum weder der Flugschreiber noch die Frachtbriefe je auftauchten.

Der jetzige Fund könnte auch erklären, warum El Al am 3.Juni diesen Jahres über seine Anwälte mitteilen ließ, aus „staatlichen Sicherheitsgründen“ keine weiteren Auskünfte bei den israelischen Ministerien einholen zu können.

Als „besorgniserregend“ bezeichnete gestern die Haager Gesundheitsministerin Els Borst die neuen Erkenntnisse. Außenminister Jozias van Aartsen wollte den Fund bisher nicht kommentieren. Weitere Klarheit soll ein parlamentarischer Untersuchungsausschuß schaffen, der seit kurzem mit dem Absturz beschäftigt ist. Jeannnette Goddar