Der Vocoder als Fußnote

Mit „Munich Machine“ verweist DJ Hell auf den in München kreierten Disco-Sound der Siebziger (Moroder!) und den Electropop der Achtziger, mit der Balance zwischen Majordeal und Underground personifiziert er den Idealfall der Arbeitsteilung im Dance-Sektor  ■ Von Martin Pesch

Irgendwann war es soweit. Helmut Geier erschien im Anzug zur Arbeit. Nicht irgendein Anzug, es war schätzungsweise einer von Helmut Lang, mindestens aber ein Paul-Smith-Modell. Auch die Glatze war passé, die dunkelblonden Haare fielen leger über die Ohren. Der Imagewechsel verursachte kaum Befremden. Selbst Sven Väth, Inbegriff der exzessiven Abfahrt, läßt sich schließlich inzwischen gerne im Gucci- Hemd ablichten, verschreckt seine Fans aber mit der Auskunft, dieses Kleidungsstück sei ihm doch zu schade, um es bei jeder Gelegenheit kräftig durchzuschwitzen.

Bei DJ Hell – unter diesem Namen ist Helmut Geier als Techno- Musiker weltweit bekannt – ängstigte das neue Outfit weit weniger. Denn immer strahlte er eine gewisse Noblesse, ein untrügliches Stilbewußtsein aus. Und lange bevor es in dieser „gesichtslosen“ Szene en vogue wurde, wußte er, daß das Repräsentieren auch zum Handwerk jener Spezies gehört, deren Aufgabe es ist, in kunstnebeldurchfluteten, kaum beleuchteten Räumen für Stimmung zu sorgen, versteckt hinter Plattenspielern und Mischpult, das Gesicht von Kopfhörermuscheln eingeklemmt.

Geier ist als DJ zu lange unterwegs, als daß er das, was der nachgewachsenen DJ-Generation als Nonplusultra erscheint, für sich als Gewinn verbuchen könnte. Er hat das Pop-Jahrzehnt, die seligen 80er, aktiv durchlebt und weiß die damals errungenen Möglichkeiten des Spiels mit Bildern und öffentlichen Identitäten zu schätzen. Daß seine Erscheinung und seine Musik diese Möglichkeiten derzeit in hohem Maße nutzen, verstärkt den Eindruck, Techno müsse ihm immer etwas fremd geblieben sein. Dabei gehört er, was seine Beliebtheit bei Clubbern angeht, seit mindestens fünf Jahren neben dem schon erwähnten Väth zur einsamen Spitze deutscher DJs und hat auch sonst einiges vorzuweisen. Seine erste eigene Produktion erschien 1991, zwischenzeitlich war er als A&R-Mann bei der Offenbacher Firma Logic für ein typisch Frankfurter Phänomen namens Trance mitverantwortlich. Derzeit macht er insbesondere durch die 80er-lastigen Veröffentlichungen seines Labels International Deejay Gigolos Furore.

Vier Jahre nach seinem letzten Album „Geteert und gefedert“ erscheint jetzt seine neue CD „Munich Machine“ auf V2. Der Virgin- Ableger versucht derzeit, die unabhängige Labellandschaft nach Crossover-fähigen Danceacts abzugrasen, die allerdings so viel Street Credibility angesammelt haben müssen, daß beide Seiten dabei nicht verlieren können. Hell ist dafür ein Idealbeispiel. Die Plattenfirma gewinnt einen Künstler, dessen aktuellen Veröffentlichungen die Möglichkeit des Crossovers, also die Charts-Plazierung mindestens der ausgekoppelten Single „Suicide Commando“ zuzutrauen ist.

Andererseits bleibt Hell selbst durch den Vertrag mit der großen Firma vom Verdacht des Ausverkaufs unbehelligt, weil er dort, wo dieser am lautesten geäußert wird, im sogenannten Underground, einen über alle Zweifel erhabenen Status genießt. Der Idealfall entsteht dadurch, daß Hell mit den über Jahre angesammelten Lobeshymnen für seine Platten und DJ- Set und der kaum zu überbietenden Reputation bei seinen Fans die gerade bei ihnen noch immer nicht kleinen Vorbehalte gegenüber der Plattenindustrie – hier eben V2 – vergessen macht. Der dürfe das, heißt es.

Erleichtert werden derartige Volten durch ein die unterschiedlichen Tonträgerformate betreffendes Splitting des Marketings. Die CDs der Maxi und des Albums gelangen über V2 bis zum Plattenladen im letzten Winkel der Republik, während die Vinylversionen von der Münchner Kleinfirma Disko B und deren erfahrenen Independent-Vertrieb in die DJ- und Hipster-abhängigen Plattenläden der größeren Städte geliefert werden.

Idealfall heißt auch: Der jeweilige Endverbraucher weiß nichts von seinem komplementären Gegenüber, das gerade dieselbe Platte zur Kasse trägt. Was als in Verträge hineingeschriebene Freiheit verstanden wird, entpuppt sich so gesehen als langfristig wirksame Fragmentierung der Musikhörer.

Daß er weiterhin Platten unter dem Namen DJ Hell auf Disko B, seinen eigenem Gigolo-Label oder bei sonst einer kleinen Firma veröffentlichen darf, verhindert als Nebeneffekt des positiv empfundenen Zugeständnisses, daß diese Veröffentlichungen ab sofort funktionalisiert sind als erwünschtes Bedienen des Undergrounds. Der dort sich akkumulierende Mehrwert, von Ein- oder Zweimannbetrieben erwirtschaftet, wird dann beim nächsten Album wieder abgeschöpft – und sei es nur als Zitatsammlung aus Reviews einschlägiger DJ-Magazine, von deren Existenz ein „normaler“ CD-Käufer bis dato nichts wußte. Die Arbeitsteilung, die sich in den letzten Jahren dort etabliert hat und die im Dance-Sektor ungleich besser funktioniert als im Independent-Rock-Bereich, ist zu einer unhinterfragbaren Struktur geworden, von der komischerweise alle behaupten, sie würde allen nutzen.

Helmut Geier hat recht, wenn er sagt, er sei „einer der letzten mit Majordeal“. Daß es so lange gedauert hat, liegt daran, daß seine Musik über Jahre wirklich nur etwas für ausgesprochene Techno- Liebhaber war. Bis vor nicht allzulanger Zeit regierte eine unglaublich trockene Kickdrum, mit der nicht gut Kirschen essen ist. Wenn man bei Tracks wie „Motherfunk“ von Funk sprechen kann, dann ist es ein sehr böser, anti-grooviger Funk.

Charakteristisch für Hell- Tracks, sagen wir bis 1997, ist auch eine düstere Atmosphäre, ständig lauert etwas Unheilvolles im kräftigen Marsch nach vorne. Exzellent klingt das bei „Der Totmacher“, einem Stück, das ursprünglich für einen Viva-kompatiblen Werbetrailer für Karmarkas gleichnamigen Film produziert wurde. Hell und das ihn umgebende Promobüro wußten diese Verweise immer recht geschickt und nonchalant einzusetzen, wohl wissend, daß das mit ihm aufgewachsene und erwachsen gewordene Publikum etwas mehr als einen kickenden Track benötigt, um am Ball zu bleiben. So werden viele seine 1997 auf dem schottischen Label Sativae erschienene Maxi hauptsächlich wegen ihrer extravaganten Titel gekauft haben: „Diese Momente werden nicht verloren sein wie Tränen im Regen!“ Daneben paßt doch wunderbar im Regal ein Band voll Rilkescher Melancholie. Die andere Seite dieser Maxi, die man in Hells Werk durchaus als Kehre verstehen kann, trägt dementsprechend den folgenden Titel (Vorsicht!): „So regen wir die Ruder, stemmen uns gegen den Strom – und treiben doch stetig dem Vergangenen zu!“

Der popmusikalische Impuls, der aus Helmut Geier schließlich DJ Hell werden ließ, war die Frühachtziger-Electropop- und New Wave-Phase. Diesem Vergangenen strebt Hell derzeit zu, vielleicht von berechtigterer Warte aus als andere. Immerhin tauchen in seinen DJ-Sets seit Jahren Titel von Fad Gadget oder Tubeway Army auf.

Und so klingt auch Hells neues Album nicht mehr schroff und straight outta Technobunker, sondern steckt voller Fußnoten, die auf Liasons Dangereuses oder Grace Jones verweisen. Der Vocoder tut das seine. Und auch ein Four-to-the-floor-Track wie „Jack The House“ ist aufgeladen mit Erinnerung an die Chicagoer Anfangstage aktueller Clubmusik. Muß man das jetzt retro schimpfen? „Für mich hat“, sagt Hell, „die Verschweißung der verschiedenen Stile am Ende des Tages etwas Frisches und Neuartiges.“

Der Umgang mit Klischees gewinnt ihnen nur etwas Neues ab, wenn sich die Ernsthaftigkeit der Adaption aus noch einem anderen Grund als dem des bloßen Gefallens speist. Einige Münchener Nachbarn Hells haben das kürzlich vorgemacht. Die Band Merricks mit ihrem Album „Sound Of Munich“ und F.S.K. mit „Roxy Munich“. Auch sie streben dem Vergangenen zu, allerdings auf eine Art, die dieses Streben als artifizielles Unternehmen deutlich macht. Der Bezug auf Moroders in München kreierten Disco-Sound der siebziger Jahre, die mit ihm verbundenen Images von Glamour und kosmopolitanem Style treibt auch Hells „Munich Machine“ an. Gerade von ihm allerdings hätte man sich ein musikalisches Statement erwartet, das über die Rekonstruktion der Errungenschaften der Prä-Techno-Ära hinausgeht. Daß die sowieso unwiderstehlich und bestechend modern klingen, riechen und vor allem aussehen – das wußte man vorher.

Hell: „Munich Machine“. (V2/Disko B/Efa)