Kommentar
: 1969 und 1998

■ Rot-Grün: Gelassenheit statt Angst vor dem Kulturkampf

Erinnert sich eigentlich noch jemand an 1969, als Brandt den Regierungswechsel praktizierte und ihn mit dem damals kühnen Wort „Machtwechsel“ betitelte? Die Union schäumte, eine „Machtergreifung“ wurde dem Sozialdemokraten unterstellt. Noch jahrelang hielt die CDU/CSU, weil sie stärkste Fraktion im Bundestag war, die sozialliberale Regierung eigentlich für illegitim und nahm die Oppositionsrolle nicht wirklich an. Mitten im Kalten Krieg wurde der Streit um die Ostpolitik zum veritablen Kulturkampf.

Acht Wahlen später ist von derlei Aggressivität nichts mehr zu spüren, im Gegenteil. Jeder lobt den abtretenden Kanzler, der verläßt souverän die Bühne. Seine Partei strebt gelassen auf die Oppositionsbänke und wünscht den Nachfolgern alles Gute. Dieser sichtlichen Erleichterung entspricht die Gelassenheit, mit der das Bürgertum, von Börse bis BDI-Präsident Henkel, den Wechsel hinnimmt. Selbst Joschka Fischers Ambitionen auf das Außenministerium können niemanden mehr ernsthaft schrecken.

Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der Henkel Schröders Wahlparty aufsucht, wird es weitergehen. Zunächst muß Rot-Grün alles dransetzen, sich nach innen und außen zu stabilisieren. Eine gesellschaftliche Akzeptanz für Tempo 100 gibt es nicht? Na gut, man wird sich über Tempo 120 einig werden. Neues Staatsangehörigkeitsrecht und Homoehe? Würden doch längst von der Mitte der Gesellschaft hingenommen. Ein Aufstand dagegen wäre jedenfalls schnell als spießbürgerlich stigmatisiert und abgetan.

Die Republik ist reif für Rot-Grün und für vieles, was die Grünen zusammen mit Öko-, Frauen- und Anti-Atom-Bewegung angestoßen haben – wenn auch längst nicht für alle grünen Wünsche. Gleichzeitig ist im Zuge dieses Wandels das grüne Milieu geschrumpft und hat seine scharfen Konturen verloren. Noch im März, nach Schröders Kandidatenkür, schien es, als würde die SPD in der Mitte fischen und links Platz machen für die Grünen. Jetzt sagen die Wahlforscher, Schröder habe netto mehr als 400.000 Stimmen zu sich herübergezogen, die 1994 noch bei den Grünen gelandet waren.

Schröder kann seine „neue Mitte“ nicht definieren, aber er weiß, daß die grüne Wählerschaft par excellence dazugehört. Gemeinsam wäre der gesellschaftliche Wandel zu ratifizieren. Vorsichtig, mutig und selbstbewußt. Michael Rediske