■ Wahrheit-Reporter vor Ort: Als Wahlhelfer in der Stadtsparkasse Kamen
: Zählen und sortieren

Der Souverän ist zu früh dran. Er steht vor der Tür, ist weiblichen Geschlechts, Ende 50 und sagt seinem Mischlingshund, er soll aufhören, an der Leine zu zerren. Sonntag, 7 Uhr 55, Sparkasse Kamen, Filiale Süd. „Wir gehen dann noch mal um den Block!“ – der Souverän zeigt Einsicht. Derweil beraten wir Wahlhelfer über die Frage, ob man Pritt-Stifte in die Kabinen legen sollte. Ergebnis: Ein mehrheitliches Nein; der Souverän möge die Lasche einstecken und fertig. Am Abend Hunderte von zugeklebten Umschlägen zu öffnen, das dauerte zu lang, und Schröder müßte Wochen auf die Amtseinführung warten. Inzwischen ist es 8 Uhr, die Frau mit dem Hund ist zurück und wird eingelassen. Das Tier bellt die Urne an. Haben die Väter des Grundgesetzes das gewollt?

Mit zwei Schichten zu je drei Leuten hat die Stadtverwaltung jedes Stimmlokal bestückt: Vorsteher(in), Schriftführer(in), Beisitzer(in). So souverän, wie er tut, ist er nämlich nicht, der Souverän. Er braucht uns. Wir sind präpariert. Wir haben Vorschriften. Wir tragen keinerlei Parteiabzeichen (unerlaubte Beeinflussung). Wir haben eine Liste. Und wir werden zehn Stunden lang aufpassen, daß niemand seinen Stimmzettel mit nach Hause nimmt. Die Zahl der abgehakten Kästchen im Wählerverzeichnis und die Zahl der auszuwertenden Scheine würden sonst voneinander abweichen. Horror.

Wir lernen viel an diesem Tag. Zum Beispiel: Der Souverän erscheint vorzugsweise in Rudeln – die Stimmabgabe ist Familiensache, nicht wahlberechtigte Kinder haben in der Regel Jojos bei sich oder werden von uns mit Luftballons ruhiggestellt. Der Souverän erscheint, wenn's ihm gerade paßt. Auffällig auch: Er ist meist gut gelaunt, wohl froh darüber, mal wieder gefragt zu werden. Drei junge Herren, deren Haartracht anarchistisches Gedankengut impliziert, stehen nach dem Urnengang feixend auf der Straße: Hoho, dem dicken Oggersheimer haben wir's gegeben... Tja, und manchmal hat der Souverän nicht den Schimmer einer Ahnung. Zwei junge Damen fragen, ob sie „hier mal wählen“ dürften. Das löbliche Ansinnen scheitert an der Nichtverfügbarkeit jedweder amtlichen Dokumente. „Dann kommen wir nachher nochmal wieder, ne?“ Ja, tut das. Tun sie aber nicht.

Der Souverän ist wenig kreativ beim Ausfüllen des Papiers. Wie soll er auch? Aber andererseits: Was zum Teufel treibt er da oft minutenlang hinter der Stellwand? Eine Frau will gar nicht wieder hervorkommen; bei der Begrüßung hat sie uns wissen lassen, sie habe keine Lust zu wählen, aber ihr Mann bestehe darauf. „Kann ich hier auch selber eine Partei reinschreiben? ,Unabhängige Mieter‘ oder so?“ Nö. Wiedersehen. Und Gruß an den Gemahl. (Wir gucken grad mal in die Handreichung des Bundeswahlleiters, ob es eine Höchstzeit für den Aufenthalt in der Kabine gibt. Leider negativ.)

Alles in allem aber ist der Souverän ganz okay; daß er vorzugsweise in Scharen vorstellig wird, wenn der Schriftführer Zigaretten- oder Pinkelpause macht, darf man wohl als Marotte verbuchen. Weit mehr kränkt uns, daß um 18 Uhr bereits die erste Prognose durchs Radio rauscht, ohne daß uns mal irgendwer interviewt hätte. Sorgsam breiten wir die Hinterlassenschaft des Souveräns auf dem Boden aus, zählen und sortieren, sortieren und zählen. „Unser“ Souverän will die Schröder-Partei mit absoluter Mehrheit. Und die Frau mit dem Mischlingshund zieht ihre abendliche Runde. Der Hund kläfft. Souverän. Andreas Milk