„Prämien fördern Tötungsabsicht“

■ Ignacio Cano vom brasilianischen Forschungsinstitut ISER zur Strategie der Polizeiführung von Rio, die Tötungsbereitschaft ihrer Beamten zu stimulieren

taz: Sie haben die Polizeigewalt in Rio de Janeiro untersucht. Was war der Ausgangspunkt?

Ignacio Cano: Journalisten des Jornal do Brasil hatten bei Recherchen festgestellt, daß die Zahl der von der Polizei getöteten Personen stark zugenommen hatte. Verschiedene Menschenrechtsgruppen griffen das Thema auf, und das Stadtparlament von Rio de Janeiro beauftragte schließlich mein Institut ISER mit einem Gutachten. Ein Jahr lang haben wir dann unter Verwendung ausschließlich offizieller Quellen diese Fälle untersucht. Wir kamen zu dem Ergebnis, daß die Zahl der Toten seit Amtsantritt Generals Nilton Cerqueira als Chef der Sicherheitsbehörde im Mai 1995 pro Monat von 16 in den Vorjahren auf 32 gestiegen war. Cerqueira hatte Tapferkeitsprämien eingeführt, mit denen ein Polizist sein Gehalt um bis zu 150 Prozent aufbessern kann. Seither kommen auf jeden Verletzten drei Tote. Das zeigt die Absicht, Delinquenten zu töten.

Die Polizisten haben im Konflikt also weitergeschossen?

Bei den gerichtsmedizinischen Untersuchungen fanden wir auch viele Anzeichen dafür, daß es sich um Exekutionen gehandelt haben könnte. Wir entdeckten in 40 Fällen Schmauchspuren von Schüssen aus kürzester Distanz. Bei 222 Leichen wurden Verletzungen entdeckt, die nicht von Schußwaffen herrührten — was seltsam ist, wenn es sich um eine bewaffnete Konfrontation handelt. 75 Prozent der Opfer hatten mindestens eine Einschußstelle im Rücken.

Woher kommt diese große Bereitschaft der Polizei zu töten? Kann man das ausschließlich mit diesen Prämien erklären?

Die Polizei ist schlecht ausgestattet, miserabel bezahlt, korrupt. In diesem Kontext und im Zusammenhang mit einem militarisierten Kampf gegen das Verbrechen ist zu sehen, daß die Behörden die Gewaltanwendung von Seiten der Polizei nicht nur nicht kontrollieren, sondern sie sogar stimulieren.

Wie kann es sein, daß eine ganze Gesellschaft nichts davon mitbekommen hat, was sich da in den Favelas tat?

In einer Situation der ständigen Bedrohung durch das Verbrechen, in der die meisten Täter straffrei ausgehen, befürwortet ein Teil der Gesellschaft eine „harte Hand“. Sie unterstützen die uneingeschränkte Anwendung von Gewalt bis hin zur Folter. Viele haben geahnt, daß in den Favelas alle möglichen Dinge geschehen, aber unsere Studie hat das tatsächlich zum ersten Mal nachgewiesen.

In São Paulo werden Polizisten, die bei bewaffneten Auseinandersetzungen Menschen getötet haben, für sechs Monate von der Straße abgezogen und bekommen ein Zusatztraining. Könnte ein solches Beispiel Schule machen?

Folgt man der militarisierten Sichtweise der Polizei in Rio, würde ein Programm wie das in São Paolo bedeuten, ausgerechnet die effizientesten Soldaten vom Schlachtfeld abzuziehen. Aus ihrer Sicht macht das keinen Sinn.

Aber stimmt denn das mit der Effizienz — vom Standpunkt der Verbrechensbekämpfung?

Nein. Wir können zum Beispiel die Zahl der Gewaltverbrechen und Raubüberfälle mit der Zahl der von der Polizei getöteten Personen in Relation setzen. Man sieht, daß parallel zum Anstieg der Todesfälle durch Polizeigewalt die Zahl der Raubüberfälle deutlich ansteigt, während die Zahl der Morde gleich bleibt. Interview: Bernd Pickert