"Einen Dummen habe ich selten gesehen"

■ Alle drei wollen morgen beim Berlin Marathon ins Ziel: Ein Erfahrungsaustausch zwischen Profiläufer Stephane Franke, dem Amateurtrainer Manfred Reschke und der Anfängerin Martina Sticha über die Welt

taz: Sie laufen 42,195 Kilometer, macht Ihnen das eigentlich Spaß?

Manfred Reschke: Laufen ist eine Art Droge. Wenn man erst mal Blut geleckt hat, kommt man nicht mehr los davon. Ich laufe meinen 54. Marathon. Mittlerweile ist das Training fester Bestandteil meines Lebens. Ich bin kein guter Läufer, wenn ich Glück habe, laufe ich im ersten Drittel mit. Ich werde niemals Geld damit verdienen, aber es macht Spaß.

Stephane Franke: Mir macht es Spaß, Erfolg zu haben. Weil der Erfolg auf den kürzeren Strecken ausblieb, wurden sie immer länger. Aber ich betreibe den Sport nicht wegen des Erfolgs. Bei mir wurde das Hobby zum Beruf. Klar, der Erfolg ist schon angenehm. Ja, und er macht auch abhängig.

Martina Sticha: Wenn ich zwei Tage Pause habe, verspüre ich den Drang, mich wieder zu bewegen – sei es nun laufen, radfahren oder Konditionstraining. Das brauche ich, um den beruflichen Streß abzubauen. Ich könnte abends nicht vor dem Fernseher abschalten. Laufen ist ideal, man kann abends im Wald zum Beispiel noch Wild beobachten...

Dann könnte man auch einfach joggen. Warum muß es gleich ein Marathon sein?

Reschke: Marathon ist die Krönung. Man fängt natürlich nicht mit dem Laufen an, weil man Marathon laufen will, sondern man beginnt mit zehn bis fünfzehn Kilometern. Aber früher oder später will man auch den Marathon packen. Das ist einfach der Reiz dieses Namens, dieses Laufs. Er ist mit keinem anderen zu vergleichen. Beim Marathon kann man nichts überspielen, da kann es so schlimm werden, daß man aussteigen muß.

Franke: Ich könnte gar nicht aussteigen, weil ich nicht der Typ dazu bin. Für mich gilt grundsätzlich: Durchhalten, ob's schlecht geht oder gut. Im Marathon spiegelt sich die Persönlichkeit wider. Wer Ehrgeiz hat, wird beim Marathon enden. Sonst kann man das lange Trainingsprogramm gar nicht durchstehen.

Sticha: Selbstdisziplin ist aber mindestens genauso wichtig. In meinem Freundeskreis heißt es immer: Wie schaffst du das? Es ist ja nicht nur das Laufen; man muß sich organisieren können. Familie, Beruf und Training unter einen Hut zu bringen erfordert Disziplin und Härte gegen sich selbst.

Franke: Ja, zu den Ausdauersportdisziplinen gehört ein besonderer Typ Mensch. Hätte ich, wie ich mal überlegte, in der Werbung oder im Marketing gearbeitet, wäre ich wohl genauso: ehrgeizig, diszipliniert...

Reschke: ...und konsequent. Würden wir die Zeit, die wir trainieren, in den Beruf stecken, hätten wir Führungspositionen. Denn die Eigenschaften bringen wir mit. Manche Leute denken, bei den Marathonläufer seien nur Beknackte dabei. Denen kann ich nur sagen: Die Spitzenläufer haben alle ein Studium und auch da schon Erfolge erzielt. In meiner Laufgruppe sind ganz viele Ärzte. Im Gegenteil, einen Dummen habe ich selten beim Marathon gesehen.

Franke: Leichtathletik ist nicht mit Fußball vergleichbar. Es gibt nicht den schnellen Erfolg oder nur Talent. Zum Marathon gehört viel Arbeit.

Das hört sich nicht nach Spaß an. Der Profi verdient sein Geld damit, aber für den Amateur...

Sticha: ...ist es der persönliche Erfolg. Man sieht, daß wildfremde Leute einem zuklatschen und jubeln. Mich hat das mitgenommen. Bei meinem ersten Halbmarathon im letzten Jahr kamen mir die Tränen, als ich das Ziel erreichte. Nicht weil ich fertig war, sondern weil ich einfach so glücklich war. Das kann kein Außenstehender verstehen. Das ist der Anreiz, weiterzumachen.

Ist das auch beim 54. Marathon noch so, Herr Reschke?

Reschke: Sicher. Wir sind aber als Hobbysportler nicht nur Marathonläufer. Primär ist für uns das Laufen wichtig und daß wir uns wohl dabei fühlen. Ich würde niemals mein Leben dem Sport anpassen. Ein Profi muß das machen, er muß die Ernährung entsprechend umstellen. Ich esse, was mir schmeckt. Müßte ich, wie Sie, Herr Franke, auf Schokolade oder mal ein Eisbein verzichten, würde ich den Sport zurückschrauben. Sonst wäre es kein Genuß mehr.

Franke: Man kann unsere Erfahrungen nicht vergleichen. Was ich mache, ist ein knallharter Job. Keine Spielerei. Ich trainiere 12- bis 14mal die Woche, im Trainingslager noch öfter. Da von Genuß zu sprechen, ist ganz schön schwer. Wenn ich in New York oder Boston laufe, interessiert mich nicht, ob mir jemand zujubelt. Ich laufe wie durch eine Wand, weil ich mich nur auf meine Arbeit konzentriere.

Wünschen Sie sich nicht manchmal, der Sport wäre nur ein Hobby, Herr Franke?

Franke: Es springen auch schöne Sachen dabei heraus. Ich lerne tolle Menschen und Länder kennen, die ich sonst nie bereisen würde. Wenn ich zum Beispiel mit den Kenianern trainiere, dann ist das eine Erfahrung, die kann man nicht einfach im Reisebüro kaufen.

Sticha: Trotzdem, ich weiß nicht, ob ich das als Job machen könnte. Der Druck, zu gewinnen, ist doch immens. Ich möchte morgen bei meinem ersten Marathon nur durchkommen, ohne größere Probleme zu haben – und wenn möglich unter vier Stunden.

Haben Sie Angst vor Ihrem ersten Marathon, Frau Sticha?

Sticha: Meine größte Angst ist, daß ich gezwungen bin aufzuhören wegen etwas, das nicht sein muß. Krämpfe zum Beispiel.

Franke: Druck ist immer relativ. Schon beim zweiten Mal werden Sie versuchen, Ihre Zeit zu verbessern.

Reschke: Ich habe die Erfahrung gemacht, daß Leute, die gut trainiert sind, ihren ersten Marathon mit Spaß und ohne Probleme laufen. Beim zweiten Mal klappt es meist nicht, weil sie die Zeit im Hinterkopf haben. Mittlerweile bin ich eher besorgt, daß meine Schützlinge gut durchkommen, als über meine eigene Zeit.

Franke: Also ich will schneller als zwei Stunden elf Minuten und 26 Sekunden laufen – meine persönliche Bestzeit.

Reschke: Er weiß die Sekunden schon, das ist der Unterschied. Ich will den Marathon in etwa dreieinhalb Stunden schaffen. Da bin ich eine Stunde hinter der ersten Frau. Aber klar, Herr Franke, die Anspruchshaltung der Umwelt ist bei Ihnen größer als bei mir. Sie haben Fans – uns kennt ja keiner. Wenn Sie gewinnen, freut man sich, wenn Sie verlieren, leidet man mit.

Franke: Bei der letzten WM lief es für mich im Marathon ganz schlecht. Ich war sehr enttäuscht. Da hab' ich mir selber gedacht: Warum hast du den Blödsinn gemacht?

Leidet ein Amateur genauso wie ein Spitzensportler, wenn er versagt?

Sticha: Wenn ich nicht erreiche, was ich mir vorgenommen habe, bin ich enttäuscht. Aber es ist nicht so, daß es mich belastet oder ich resigniere.

Franke: Versagen, denke ich, kann nur eine Maschine. Man ist einfach enttäuscht. Und das fühlt sich für mich wahrscheinlich genauso an wie für den Amateur auch.

Reschke: Für die Medien ist doch schon der Zweite der Verlierer und der Versager – obwohl es dem vielleicht prima geht und er sich riesig über seine Plazierung freut. Ich sag' auch meiner Gruppe immer: Selbst Aussteigen ist kein Versagen. Ich finde es ganz schrecklich, wenn einer nach sechs Stunden auf den Knien durchs Ziel rutscht. Lieber in Ehren aufhören.

Franke: Wenn ich einmal vorher aufgeben würde, wäre es beim nächsten Mal zu leicht. Ich arbeite mit meinem Körper zusammen, horche in ihn hinein: Wie fühlen sich Waden, Oberschenkel, Beine an? Außerdem kriegt man ja nur am Anfang etwas mit, danach ist die Konzentration zu stark. Es ist mir schon passiert, daß ich wegen der Endorphinausschüttung überhaupt nichts mehr gespürt habe – auch keine Schmerzen. Ein Marathon geht erst bei Kilometer 30 los.

Reschke: Ich kriege die Schmerzen bis zum Ende voll mit, weil meine Konzentration nicht so stark ist und ich nicht so schnell laufe. Man sollte uns aber nicht als Masochisten abstempeln, die Schmerz suchen.

Franke: Ich glaube, ein bißchen Masochismus ist bei uns schon dabei. Wenn ich ins Training gehe, weiß ich, daß es weh tun wird.

Reschke: Richtig, aber Sie suchen den Schmerz nicht oder fühlen sich erst wohl, wenn er da ist.

Franke: Suchen nicht, nein. Aber ich nehme ihn in Kauf, um Höheres zu erreichen.

Sticha: Man kann uns, Herr Reschke, aber auch nicht mit einem Leistungssportler vergleichen. Ich weiß, wo meine Grenzen sind.

Reschke: Stimmt. Wenn Herr Franke eine Chance sieht, zu gewinnen, wird er alles geben. Das tue ich nicht. Ich will nicht bis zur völligen Erschöpfung laufen. Ich will aufrecht im Ziel ankommen.

Sticha: Ich könnte gar nicht so weit abschalten, daß ich nichts mehr mitbekomme. Mir fallen Freunde am Straßenrand auf, oder ich denke über Dinge nach, die im Büro passieren. Ich finde das sehr wichtig. Außerdem lenkt es ab.

Franke: Ich habe gar keine Zeit, auf Sehenswürdigkeiten oder Zuschauer zu achten – nur auf die Gegner. Alles andere ist Energieverschwendung.

Reschke: Ich habe keine Gegner. Ich nehme von der Umgebung mehr wahr als von den Läufern. Die interessieren mich absolut nicht. Ich achte nur auf meinen eigenen Rhythmus. Wenn sie mir alle davonlaufen würden, wäre mir das auch egal. Bei Ihnen, Herr Franke, ist es von Anfang bis Ende Taktik. Sie müssen im Prinzip ja gar nicht die gute Zeit laufen. Bei einem Sieg wäre Ihnen die Zeit egal, oder nicht?

Franke: Na klar, bei einem Sieg schon.

Aber was treibt die 23.000 Läuferinnen und Läufer zum Berlin Marathon, die keine Chance auf den Sieg haben?

Sticha: Mir hilft das Laufen, um Streß abzubauen.

Franke: Aber das ist Training. Im Trainingslager kann ich auch wunderbar Streß abbauen. Da konzentriert man sich nur auf eins: Man schläft, man ißt, man läuft.

Frau Sticha, könnten Sie sich so ein Leben vorstellen?

Franke: Halt, Sie reduzieren das. Jetzt denkt jeder: Mann, ist der blöd!

Sticha: Ja, das ist zu pauschal. Ich kann mein Leben im Grunde auch in wenige Worte fassen: Arbeiten, essen, schlafen, trainieren. Für Außenstehende klingt das schrecklich. Die denken, ich hätte keine Zeit mehr für Freunde, Kino oder Theater.

Aber es ist doch so.

Sticha: Nein.

Franke: Gut, in der härtesten Trainingsphase kann ich mir nicht mehr tausend Sachen aufladen. Ich habe auch keine Lust mehr, ins Kino oder zum Tanzen zu gehen.

Reschke: Aber Kino kann doch auch Erholung sein.

Franke: Ich kann aber nicht in die Spätvorstellung gehen, weil ich zu einer bestimmten Zeit im Bett sein muß, um mich zu erholen. Im Trainingslager in Kenia war das eh kein Problem. Da stehen alle früh auf und gehen früh ins Bett.

Der Langstreckenläufer Paavo Nurmi hat verbittert am Ende seiner Karriere gesagt: „Sinn hat nur, was Jahrhunderte hält. Sport hält nicht.“

Franke: Was macht denn ein Schauspieler? Was produziert der? Unterhaltung. Etwas anderes mache ich auch nicht. Es gibt Leute, die freuen sich und leiden mit einem – vor dem Fernseher oder an der Strecke. Es ist wie in der Tragödie. Entweder gewinnt der Sportler, oder er stürzt ab. Das ist das Spannende daran. Man will dabeisein, um das zu erleben. Interview: Tina Hüttl