Sohn des Krauts

Der Autor als literarischer Plattenspieler: In seinem Roman „Tomboy“ folgt Thomas Meinecke den komplizierten Windungen zwischen Text, Mann und Frau – und das mit beträchtlicher Geschwindigkeit. In dieser Disco drehen sich 120 Widersprüche per Minute!  ■ Von Thomas Groß

Die beträchtliche Umdrehungsgeschwindigkeit des Romans ist bereits nach drei Seiten erreicht. Dort nämlich brummt der „jungen Studierenden“ erstmals der Kopf, nachdem die Hardware des Geschehens in raschen Erzählwendungen installiert wurde: ein Notebook der Marke Texas Instruments, ein Plattenspieler, dessen Auslaufrille nach Neuem verlangt, sowie der Taufname der Heldin, Vivian Atkinson, per Bildschirmschoner in das Intro eingeblendet. Gleich wird Frauke Stöver aufkreuzen, die platinblonde Lesbe und potentielle Verführerin der „zwangsheterosexuellen“ Hauptfigur des Romans, seit Jahren mit einer Promotion über die Vorhaut Jesu befaßt.

Weil diese sich aber dem Abschluß ebenso hartnäckig entzieht wie Vivians Magisterarbeit zum Thema „Zweihundert Jahre Geschlechterpolarität“, wird erst einmal eine Platte aufgelegt. „Tomboy“, der zweite Roman des Musikers, Radio-DJs und eben Autors Thomas Meinecke, spielt im Land der zerstreuten Wahrnehmung. Die Protagonisten sind mit den Techniken der Gutenberg-Galaxis vertraut, doch längst bedeuten ihnen Buchstaben nicht mehr alles. Sie lassen sich von Songzeilen inspirieren, blättern in Zeitschriften oder lesen im Kaffeesatz. Dazwischen werden Notate in den Computer gehackt, die anschließend wieder in den Diskussionszirkel der Peer group eingespeist werden. Höhepunkte im Sinne von Pointen sind dabei weniger von Interesse als gleitende Kommunikationsprozesse.

Vor wenigen Jahren noch wäre das als Skizze der neuesten Stimmung im Westen durchgegangen, inzwischen denkt man so auch in Heidelberg. Meinecke entwirft ein nordbadisches Szenarium, in dem das einstige Wissen der Subkulturen in die Mitte der Gesellschaft hineinrotiert ist. Seine Figuren lesen Freud und Foucault mit derselben interessierten Uninteressiertheit, mit der sie sich von einer Schallplatte zu ausufernden Diskursen anstiften lassen.

Die ganze Welt ist diesen wilden Deutern zum Text geworden. Der „Gelegenheitsarzthelfer“ Hans Mühlenkamm etwa, als Freizeitfeminist und stiller Verehrer Vivians mit von der Partie, versteht sich auf Exegesen im Modebereich ebenso wie auf die feinen Unterschiede innerhalb „einer hedonistischen Geräuschspur namens House Music“. Und schon kreuzt sich munter alles weiter: Nordwestamerikanischer Lesbenpunkrock mit Gendertheorien, Heidelberger Gespräche über Handtaschen mit solchen über die politische Bedeutung von Unterwäsche.

„Tomboy“ hat kein Zentrum, aber eine Art Leitmotiv. Es ist der gender trouble, wie ihn die amerikanische Feministin Judith Butler auf den Begriff gebracht hat. Zu einer ihrer Lesungen pilgert die provinzdeutsche Peer group hin wie zu einem Popkonzert. Doch die Butlersche Grundthese, selbst der Körper sei letztlich ein Text, wird von der Gruppe auch am eigenen Leibe durchdekliniert. Es knirscht in der Geschlechtergrammatik, wenn Hans Mühlenkamm den Wunsch, Vivian ein Kompliment für ihr prächtig nachgewachsenes Haupthaar zu machen, politisch korrekt unterdrückt, während seine Ersatzbildung, sie sehe ja (huch!) mit einem Mal „ganz anders aus“, von ihr in einer Art innerem Monolog durchschaut und gleichsam präventiv dekonstruiert wird.

So gehe es eben zu „in ihren aufgeklärten Kreisen“, tröstet die Heldin sich über diesen im Keim erstickten Sexismusverdacht hinweg – der freilich nicht allein bleibt. Je promisker die Diskurse werden, desto rapider sinkt die Chance der ProtagonistInnen, sich noch auf irgendeine Weise geschlechtlich zu vermischen. Es kommt zu dem Paradox, daß vor lauter Reden über Sex keiner mehr stattfindet. Nicht nur Hänschen Mühlenkamm verfehlt als elektronischer Softie sein Triebziel, auch Frauke Stöver, die inzwischen mit einer transsexuellen Aushilfskellnerin namens Angela angebandelt hat, kann auf die Dauer bei Vivian nicht landen. Ja, selbst Vivian Atkinson selbst wird sich denkend in ihrer Physis eigentümlich fremd.

In einer nicht unkomischen Szene verirrt sich ihr Zeigefinger in ihr. Derart autoerotisch erregt, versagt sie sich zwar den „unmittelbar bevorstehenden klitoralen Höhepunkt“ nicht, kann aber auch nicht umhin, dabei an Foucault zu denken, der in einer klassischen Wendung das sexuelle Begehren „als perfiden Bio-Spielball der politischen Mächte enttarnt hatte“.

Wenn spätestens hier der LeserInnen-Kopf diskursiv mitbrummt, ist auch das im Sinne des Verfassers. In „Tomboy“ simuliert Thomas Meinecke – wie in all seinen Schriften – das Drehmoment eines Turntables. In endlosen Windungen, die immer dann, wenn das Arrangement auf eine Pointe hinauszulaufen scheint, breaken, die Tonart wechseln, weiteres Material zugespielt bekommen, zirkuliert der Text um eine verborgen bleibende Mitte wie ein literarischer Plattenspieler. Als Diskursmischmaschine aber sprengt er die Schablonen des psychologischen Erzählens. Meineckes Figuren sind keine HeldInnen „aus Fleisch und Blut“, sie sind Textgeburten, die in einer Versuchsanordung begehrend wie reflektierend aneinandergeraten.

Das Reflektierenmüssen sei „die tiefste Melancholie jedes echten und großen Romans“, heißt es an einer Stelle im Rekurs auf Georg Lukács. In Variation dieses Motivs sind Vivian, Hans, Frauke und die ganze Bande sprechende Puppen für ein Arrangement des Autors selbst. Immer neu schickt er sie in die Aporien des gender troubles. Was genau halten eigentlich Büstenhalter? Um welche soziale Konstruktion handelt es sich, wenn das Gewand über der Hose plötzlich eine dramatische Falte wirft?

„I Gave My Cock A Womans Name“ heißt wiederum eine CD der Chicagoer Gruppe Falstaff – ja, geht das denn so einfach? Der Anflug von Ironie, der in solchen Wirren mitschwingt, hat mit Satire nichts zu tun. Meinecke nimmt kein Milieu „aufs Korn“, er prozessiert die Widersprüche, in die die Gefühle sich verstricken, wenn die Gedankenbewegung erst einmal in Gang gesetzt ist, exemplarisch aus. „Tomboy“ ist also weniger ein Roman als eine Theorieerzählung, ein Essay über Identität und deren produktive Verfehlung.

Doch was ist das eigentlich für ein Land, in dem ein Gespräch über Sex so wenig unschuldig daherkommen darf? Im verpuppten Nachdenken über das Nichtidentische am Geschlechtlichen streift Thomas Meinecke ein Geflecht von Verweisen, die den „Tomboy“ betreffen. Der Romantitel meint ja nicht nur ein burschikoses Mädchen wie Vivian, er spielt auch auf den Autorennamen selbst an: Genau wie Vivian, die Deutschamerikanerin, ist auch Meinecke (Jahrgang 55) ein Kind der Amerikanisierung, die in den „German Headquarters“, den Kasernen um Heidelberg, ihren sichtbarsten Ausdruck fand. Hier gab es Kaumasse mit fremden Stoffen. Von hier aus gelangte Elvis, noch so ein androgyner Charakter, nach Deutschland.

Wenn Vivian und Hans sich gegen Ende in das truppenverlassene „Patrick Henry Village“ aufmachen, suchen sie dort auch noch einmal nach einem Gegensex zum Deutschen, einer Welt der Schallplatte, wie sie vermittels der Armee-Diskotheken dem hiesigen Volkskörper implantiert wurde. Doch die Sache läßt sich auch andersherum scratchen: Im Nachdenken über das Weibliche, das Mediale, landet Meinecke in einer komplizierten Folge von Theorie- Samples – von Otto Weiningers misogyner Verachtung alles „Weichen“ bis hin zu den Thesen des postmodernen Talmudisten Daniel Boyarin – auch immer wieder bei einer Auseinandersetzung mit dem Judentum.

Nach wie vor sei es „in Deutschland, womöglich im Deutschen“, schier unmöglich, „in selbstverständlicher Weise über Rasse und Geschlecht zu sprechen“, befindet eine der Romanfiguren. Wenn das Jüdische aber, ebenso wie das Weibliche, quer zum offiziellen Diskurs liegt, zielt die Beschäftigung damit tatsächlich auf ein Anderes: eine Identifikation mit der Welt des Scheins, der Mode, der ausschweifenden Intellektualität, des Fließens.

Derartige Gedankenbögen sind „ganz schön tricky hingedacht“, gesteht der Text sich an anderer Stelle schamhaft ein. Doch solches macht eben den „Tomboy“ aus. „Sons of Kraut“ heißt eine CD der Münchner Band Freiwillige Selbstkontrolle, in der Meinecke spielt und textet (die nächste wird übrigens „Tel Aviv“ heißen). Als Sohn des Krauts schießt er ins Kraut, schlägt sich in klingenden, zugleich schwer konstruierten Sätzen auf die Seite einer unabschließbaren Wellenbewegung. Es groovt, stoppt, knirscht, grübelt. Unablässig rumpelt der Text vor sich hin, findet immer nur momentan zu einer Position, weil er die fehlende Selbstverständlichkeit des Sprechens im Deutschen nicht nur als Erbe, sondern auch als Chance sieht. Klar, daß das beim Lesen nicht nur Spaß macht, es nervt auch – aber mit Attitüde. Die phänomenale Leistung dieses Gedankenromans bemißt sich an dem, was er nicht ist: kein Sittengemälde in Plakafarbe, keine traditionelle Rückkehr des Erzählens, kein weiterer Frontbericht aus der kleinen Welt des Rave – ganz generell nichts, was nicht mit sich selbst im Streit läge. One nation under a/no groove: In dieser Disco drehen sich 120 Widersprüche per Minute.

Thomas Meinecke: „Tomboy“. Roman. Suhrkamp Verlag, 250 Seiten, 36DM