■ Die Clinton-Affäre ist kein Ausdruck von bigottem Moralismus. Sie demonstriert, wie künftig mit komplexer Politik umgegangen wird
: Das Politische wird privat

Intimitäts- und Schamgrenzen schützen seelische Gesundheit und persönliche Integrität. Die Achtung dieser Grenzen ist eine wichtige Errungenschaft der bürgerlichen Gesellschaft. Dazu zählt auch, daß private Vorlieben und Abneigungen im verborgenen bleiben. Diese zivilen Standards sind mit der weltweiten Verbreitung des sogenannten Starr-Reports für Monica Lewinsky und Bill Clinton außer Kraft gesetzt.

Detailliert schildert der Untersuchungsbericht des Sonderermittlers Kenneth Starr, wie und wo Lewinsky den Präsidenten der Vereinigten Staaten befriedigt hat. So erfahren wir, daß Clinton es liebt, seine Hose auffordernd zu öffnen, um hernach im Bad zu onanieren. Ausufernd wird die Frage diskutiert, warum die beiden kaum Genitalverkehr hatten und statt dessen Zigarren bevorzugten. Und was treibt eine Frau dazu, ihr mit Sperma beflecktes Kleid jahrelang nicht zur Reinigung zu bringen?

Die Veröffentlichung all dieser privaten Vorlieben überschreitet nicht nur die sensiblen Schamgrenzen der betroffenen Personen. Der massive Übergriff zerstört ihre Integrität. Voyeuristisch betrachten wir – ob wir wollen oder nicht – die erzwungene Exhibition des US- Präsidenten. Die Lewinsky-Clinton-Affäre droht neue Standards zu setzen, auf die am Ende jeder glaubt Anspruch erheben zu dürfen. Kaum hatte eine republikanische Abgeordnete aus Idaho über Clintons Sexskandal gewütet, zwang man sie wiederum via Medien, eine eigene langjährige Affäre einzugestehen.

Der Skandal verkürzt das Politische auf das Private. Wir beobachten, wie sich Hillary Clinton in Irland anläßlich eines Staatsbesuchs fühlen mag, und befinden uns längst auf dem Niveau von Diana- Seifenopern.

Eigentlich sollten Politiker nach ihrer Politik und ihren Zukunftsentwürfen beurteilt werden. Doch Visionen und Utopien für die Zukunft fehlen mehr denn je. Ist es Zufall, daß in dieser Situation inflationär auf das Private zurückgegriffen wird? Verborgene Zusammenhänge weltweiter Politik werden griffig, wenn sie sich auf das geheime Sexualleben eines Präsidenten reduzieren lassen. Damit weicht die öffentliche Diskussion des Politischen der öffentlichen Exhibition des Privaten. Unter diesen Bedingungen werden der amerikanische Präsident und seine Politik buchstäblich kastriert. Wenn ein Politiker fürchten muß, daß man während Pressekonferenzen oder Staatsvisiten weniger auf seine politischen Aussagen achtet, als sich Phantasien über sein Privatleben hinzugeben, ist das Politische nur noch privat.

Clinton mag ein widersprüchlicher Mensch sein, ein Mann mit Halbwahrheiten und Falschheiten. Aber die rücksichtslose Reduktion auf die Eindimensionalität eines privaten Ausschnitts, wie wir es derzeit erleben, zerstört menschliche Kreativität, die immer im Widerspruch lebt. Auch Politik lebt von solchen Widersprüchen, nicht von der rigorosen Verkürzung menschlicher Ambivalenz und Zerrissenheit auf „das eine“. Wer glaubt, dies alles sei bloß ein amerikanisches Phänomen, geboren aus Puritanismus und gleichzeitiger Sexbesessenheit, der irrt. Ginge es nur um bigotten Moralismus, dann wäre die Mehrzahl der Amerikaner nicht der Meinung, Clinton sollte weiterhin ihr Präsident bleiben. Politiker wie Clinton oder Gerhard Schröder werden keineswegs nach der Anzahl ihrer Affären oder Scheidungen beurteilt. Wir erleben kein Zurück zu doppelbödiger moralischer Entrüstung, sondern den künftigen Umgang mit komplexer Politik.

Die Exhibition des Privaten betrifft Politiker, Talkshowgäste oder Angehörige von Katastrophenopfern gleichermaßen. Dies geschieht nicht, um moralische Entrüstung oder Aufklärung zu fördern. Die Beruhigung und voyeuristische Lust angesichts von Leid, Schrecken oder Demütigung anderer besteht in der Vergewisserung, selbst nicht betroffen zu sein.

Wo man sich selbst ohnmächtig und überfordert fühlt, hilft das fremde Leid über die eigene Misere hinweg. Die kollektive Verschiebung von Scham- und Intimitätsgrenzen verweist auf das Ausmaß der Hilflosigkeit des einzelnen angesichts seiner persönlichen Lage und der notwendigen politischen Orientierung. Dieser Prozeß zeigt sich nicht zuletzt im Umgang mit inhaltlichen politischen Aussagen: Peinlich und altbacken erscheinen mittlerweile programmatische Aussagen der Grünen im Lichte zahlreicher Berichterstatter. Sie werden nicht mehr nach ihrem rationalem Gehalt beurteilt, sondern nur noch nach ihrem Infotainment-Wert.

Und drängende Fragen lokaler wie internationaler Politik werden durch persönliche Pikanterien der handelnden Akteure ersetzt. Internationale Krisen, drohende Kriege oder Börsen-Crashs, Massenarbeitslosigkeit und Migrationsprobleme, Klimakatastrophe und Verelendung der Metropolen – all diese komplizierten gesellschaftlichen und ökonomischen Prozesse werden zu neuer Übersichtlichkeit vereinfacht. Die persönlich-private Note scheint einen Ausweg aus der Ohnmacht des Bürgers angesichts der Komplexität politischer Konflikte, die mit der Zumutung, keine einfachen und schnellen Antworten zu besitzen, korrespondiert, zu weisen. Schmierige Familiendramen sind nachvollziehbar und verständlich, weil im Zweifel jedem bestens bekannt. Die Distanz zur „großen Politik“ und ihren mächtigen Akteuren löst sich auf im Triumph der Schlüssellochperspektive.

Die Besessenheit, mit der die Amerikaner ihren Präsidenten, der politisch der erfolgreichste seit langem ist, demontieren, mag auf hiesige Verhältnisse nicht übertragbar sein. Doch der inhaltslose, nur auf Personen verkürzte bundesdeutsche Wahlkampf bereitet auch hier den Boden. Wenn Aussagen über Öko- und Energiesteuern, Arbeitszeitverteilung oder Einwanderungspolitik nur noch ein müdes Lächeln oder Aufschreie auslösen, feht dem politischen Diskurs seine ureigene Substanz. Schröders und Kohls weitgehender Verzicht auf inhaltliche Wahlaussagen weist den Weg zur verbleibenden Alternative. Es ist die Sissi-Perspektive.

Der Sexskandal des US-Präsidenten ist kein Internet-Phänomen, noch ist er bloß skurriler Ausdruck einer widersprüchlichen Gesellschaft. Ähnliche Entwicklungen hierzulande, wie weiland angesichts Gerhard Schröders Eheprobleme, können nicht mit moralischen Appellen bekämpft werden. Wenn wir nicht die zentrale politische Frage „Wie wollen wir leben?“ diskutieren, werden auch wir schon bald nur noch darüber reden, wie die politischen Akteure leben. Micha Hilgers