Wenn die Bilder duschen

Die niederländische Künstlerin Marijke van Warmerdam, die zur Zeit als DAAD-Stipendiatin in Berlin lebt, bringt die Realitätserfahrung zum Film zurück – und damit den Film selbst wieder in den Raum der Kunst  ■ Von Marius Babias

Echte Cineasten sitzen in der ersten Reihe. Auch Marijke van Warmerdam. Ganz vorne rechts. Die verzerrte Perspektive schärft den Blick für präzise Details, die aus dem diffusen Set sich lösen, zum Greifen nahe sich überformen, dann plastisch werden. Diese Bildmoleküle sind es, die die Leinwand in die Tiefe des Zuschauerraums strukturieren, dem Film den Anschein von Dreidimensionalität und der Handlung Schwung geben. Die Augen der Jackie Brown kullern aus dem Gesicht, der Revolver verwandelt sich in einen metallenen Mund, die Dialoge versickern ineinander und werden nur durch einzelne Wörter rhythmisiert. „Fuck ya“ durchzieht die Tonspur. Peng – Marijke van Warmerdam stößt ein leises Oh aus, als wäre sie selbst getroffen worden.

Echte Cineasten sitzen in der ersten Reihe. Die kraftvolle Alltagsprosa amerikanischer Cowboy- und Gangsterfilme war Rolf Dieter Brinkmanns Dichterschule. Er saß ganz vorne auf den billigen Plätzen und entdeckte, daß Sprache Bilder erzeugt und daß Bilder in Sprache aufgelöst werden können. Im klimatisierten Multiplex sind Wahrnehmungsbrüche nicht mehr möglich, weil zwischen Zuschauern und Leinwandhelden eine Erlebnistotalität simuliert wird, deren Mosaik nicht aus Realitätsfragmenten, sondern aus Wunschprojektionen besteht. Eine Folge dieser Technisierung der Wahrnehmung ist, daß die Hollywood-Charaktere immer flacher und einfältiger werden, um den im Erlebnisraum Kino frei flottierenden ZuschauerInnen emotionale Parkplätze zu geben.

Schnitt. Ein Mann duscht. Im unterirdischen Bahnhof des Amsterdamer Flughafens Schiphol. Jeden Tag 12 Stunden seit 1995. So lange steht die Dauerinstallation bereits. Das Wasser klebt an seinen Haaren, fließt seinen Oberkörper hinunter. Der 35-mm-Film wird von hinten in eine in die Wand einmontierte Leinwand als Endlosschleife projiziert. Im niederländischen Pavillon der Biennale Venedig 1995 zeigte Marijke van Warmerdam auf eine einzige Handlung konzentrierte Bildfolgen nach demselben Wiederholungsprinzip: Ein Mädchen probt den Handstand an der Wand, ein Mann vollführt Rollen rückwärts im Sekundentakt. Die zu Endlosschleifen verketteten Schnipsel wirken wie aus einem abendfüllenden Film herausgeschnitten, perfekt choreographierte Szenen ohne Anfang und Ende. Auf der documenta X projizierte van Warmerdam – via eines kleinen Spiegels – auf einen am Projektor angebrachten Blatt Papier das Bild einer Indonesierin, die sich in Zeitlupe Reis über den Kopf schüttet. In einer anderen 16-mm- Projektion zeichnen Flugzeuge Kondens-Ornamente in den tiefblauen Himmel.

Mit diesen Filmen ist Marijke van Warmerdam international bekannt geworden. Große Museen besitzen Arbeiten von ihr. Galerien stehen Schlange. Sie hat schon in der Wiener Sezession, im Museum für Gegenwartskunst Zürich und im Kölner Museum Ludwig ausgestellt. Das Künstlerprogramm des DAAD lud sie 1997/98 für ein Jahr nach Berlin ein. In der berlin biennale wird sie eine zentrale Rolle spielen. Ihr großer Erfolg hat damit zu tun, daß sie unserer multimedial zerrütteten Visualität Bilder von spröder Schönheit entgegensetzt. Nicht zufällig greift sie dabei meistens auf den Film zurück, dem Medium epischer Verknappung, statt auf Video, mittlerweile ein Anhängsel der Digitaltechnologie. Und sie betont, dies das zweite Hauptelement van Warmerdams künstlerischer Methode, das Partizipationsmoment der BetrachterInnen, allerdings nicht mit der Mitmach-Attitüde der in letzter Zeit florierenden Projekt-Kunst, sondern direkt, fast physiologisch auf das Auge einwirkend. Der visuelle Impuls ihrer Filme provoziert eine Bildvorstellung, eine Story. Diese Imaginationsleistung bringt die in den hochmodernen Kinosälen verlorengegangene Realitätserfahrung zum Film zurück.

Van Warmerdams Interesse gelte „dem Realismus der Oberfläche, dem Betrachten statt Erklären, den Phänomenen der bewegten Bilder statt der Erzählung oder Vergänglichkeit“, hat die New Yorker Kuratorin Lynne Cooke beobachtet und ihre Filme in eine Traditionslinie zurück bis in die Frühzeit des Kinos eingeordnet, als die Aufnahme einer dampfenden Lokomotive die Zuschauer noch in Angst und Schrecken versetzte. Die Zeiten der Welt- und Selbsterfahrung in bewegten Bildern sind vorbei. Das Kino, die dominierende visuelle Sprache des 20. Jahrhunderts, verliert an Boden. Digitale Bilder erobern die Welt und ordnen unsere Wahrnehmung nach einem kombinatorischen, kaleidoskopischen Prinzip. In diesem Autoritätsverlust liegt übrigens auch der Grund für das diametral gestiegene Aufkommen von Filmen im Feld der bildenden Kunst. Ob Douglas Gordon, Stan Douglas, Pipilotti Rist oder Marijke van Warmerdam – die Kunst betont in Umbruchzeiten stets ihre Rolle als Bewahrerin traditioneller Werte. Auch ist der Zusammenhang zu einer traditionell gewandelten Museumspolitik weltweit augenfällig. Das seit Anfang der neunziger Jahre wieder stark unter Beschuß stehende Museum reagiert mit dem klassischen Bildungsauftrag, nämlich Lagerstätte vom Verschwinden bedrohter Werte zu sein. Polemisch könnte man sagen, daß erst die Abschottung des Museums gegenüber aktuellen, sie institutionell in Frage stellenden Kunstströmungen zur Blüte der neuen Film- und Videokunst geführt hat.

Bei Van Warmerdams kommt aber eine weitere Traditionslinie hinzu, die kurzzeitig im medialen Stimmengewirr untergetaucht war. Ihre Filme geben dem an die Grenzen der digitalen Technologie stoßenden Expanded Cinema, dessen ästhetische Stabilität wiederentdeckt wird, verloren geglaubte Aktualität zurück. Die aus den Materialbedingungen und der Medienspezifität abgeleitete Emanzipation von Video und Super8 als eigenständige Kunstformen war durch den Computer in Frage gestellt worden, da Bilder und Töne fortan in einer gemeinsamen digitalen Form grammatikalisiert und an unterschiedliche Ausgabegeräte weitergegeben werden konnten. Der klassische Experimentalfilm zeichnete sich dadurch aus, daß die aus den spezifischen Eigenschaften des Mediums konstruierte ästhetische Erfahrung in einen Rezeptionsbereich verlagert wurde, in dem „das Kunstwerk eine Komponente der in Entwicklung begriffenen Welt ist und nicht so sehr deren passive Reflexion“ (Malcolm Le Grice).

Die von Medientheoretikern wie Vilém Flusser prognostizierte Vorherrschaft der ideographischen Bilder über das Alphabet („Die digitalen Codes synthetisieren etwas vorher bereits völlig Durchkritisiertes, Durchkalkuliertes. Kritik im alten Sinn würde bei diesen Bildern nichts anderes herausfinden können, als daß sie aus Elektronen komputiert sind.“) ist nicht eingetreten. Die Digitaltechnologie hat sich zwar auf Produktionsprozesse wie den Videoschnitt und auf Animationen, die man gemeinhin Computerkunst nennt, aber nicht so sehr auf das Stabilitätskonzept des Experimentalfilms ausgewirkt – auf die Konfrontation mit dem Filmischen als körperliche Erfahrung, auf die Kritik symbolischer Systeme im Kontext der realen Welt und auf die Anordnung der realen Welt als Interpretation. Das Expanded Cinema ist angesichts der symbolischen Instabilität von Unterhaltungskino, Privat- und Digitalfernsehen, die nur noch den Widerspruch zur Wirklichkeit abzubilden vermögen, wieder aktuell geworden.

Von der Instabilität der ideographischen Bildproduktion profitiert eine ganze junge Generation von Film- und VideokünstlerInnen. Nicht zufällig verknüpfte Catherine David auf der documenta ihren Diskurs des Politischen mit dem Kino. Eigens in Auftrag gegebene Filme unterstrichen die visuelle Widerständigkeit des zeitgenössischen, am eindimensionalen Dilemma des Digitalen geschulten Experimentalfilms. Natürlich ist die aus dem Fersehen hervorgegangene visuelle Massenkultur auch an Marijike van Warmerdam nicht spurlos vorübergegangen. Das, wie Friedrich Kittler polemisiert, als Abfallprodukt der V-2- Raketenforschung in Peenemünde entstandene Fernsehen avancierte zur visuellen Waschmaschine des Nachkriegs-Wirtschaftswunders, kolonisierte das Alltagsleben und militarisierte den Blick. Der an die Kunst gestellte Exklusivitätsanspruch und der Glaube an einen progressiven Kunstbegriff, der stets eine formale Erneuerung mit sich tragen sollte, verhinderten lange Zeit die Anerkennung des Videos als Kunstform, während der Experimentalfilm zwar als Kunstform anerkannt wurde, aber unter Publikumsschwund zu leiden hatte. Eine Lösung scheint jetzt in Sicht.

Nachdem die postmoderne Propaganda vom Ende der Geschichte die junge Generation elektrisiert hat und sie deshalb Pinsel und Meißel aus der Hand legte, scheinen Film- und Videokunst zum Leitmedium der bildenden Kunst und des Pop aufzusteigen. Insbesondere die Verbindung zur Popwelt, siehe Pipilotti Rist, verspricht die visuelle Zwangskollektivierung des Publikums.

Echte Cineasten sitzen dann vielleicht im Museum. „Oh, Jesus“, ruft Marijke van Warmerdam aus, als Jackie Brown den Revolver auf sie richtet.