Mein Kreuz gehört mir

Nichtwählen verträgt sich durchaus mit intensivem demokratischem Engagement. Es ist mindestens so rational, wie seine Stimme abzugeben. Denn „oben“, wo regiert wird, herrscht sowieso die Irrationalität. Da kann man, statt zu wählen, auch wetten  ■ Von Bruno Preisendörfer

Schön war er, der Fernsehabend mit Chips, Bier und Hochrechnungen. Auch wenn ich eine Wette verloren habe. Ich hätte den Bayern für ein paar Jahre eine sozialdemokratische Landesregierung gegönnt; so, wie ich den Hamburgern bei nächster Gelegenheit eine christdemokratische wünsche. Am schlimmsten ist, wenn das Rotationsprinzip der Demokratie nicht funktioniert, die „hohen Tiere“ in dem, was sie machen, stehenbleiben und die Ställe nicht mehr ausgemistet werden.

Deshalb muß auch die alte Bundesregierung weg. Wenn Schröder zweimal dran war – falls er überhaupt einmal dran kommt –, muß er auch weg. Sollte Schröder „drankommen“ und in zwei Legislaturperioden immer noch „dransein“, wähle ich CDU (falls Schröder sie nicht schon selbst gewählt hat). Das heißt: würde ich CDU wählen. In Wirklichkeit geh' ich ja nicht hin. Ich bin noch nie hingegangen. Mein Kreuz gehört mir. Die Wahlbenachrichtigungskarte habe ich schon weggeschmissen. Sorry, nichts mehr zu machen.

Also Wahlboykott? Um Gottes willen. Wieso denn Wahlboykott? Ihr geht doch hin. Das will ich jedenfalls schwer hoffen. Ideal wäre eine Wahlbeteiligung von 99,999999 Prozent. Je mehr Stimmen abgegeben werden, desto weniger fällt die eigene ja ins Gewicht, auch die nicht abgegebene. Je demokratischer die Wahl, desto geringer der Eigenanteil an der Entscheidung. Dann sind alle schuld, und keiner kann was dafür. Und für den Fall, daß es nach Abgabe aller Stimmen außer meiner unentschieden steht, könnt ihr Elfmeterschießen machen oder mich fragen. Ich sag' dann: Nehmt halt den Schröder, aber behaltet ihn nicht so lang.

Nichtwählern wird gern nachgesagt, sie seien „politikverdrossen“ oder nicht reif für die Demokratie oder einfach irrational. 'tschuldigung: alles Blödsinn. Nichtwählen kann sich sehr gut mit intensivem demokratischem Engagement vertragen. Und was die „Rationalität“ betrifft, wage ich hier schlankweg die Behauptung, daß die meisten Leute erstens nicht wissen, wie sie wählen; und zweitens auch gar nicht wissen können, was sie wählen. Wählen ist wie Wetten. Wie bei Pascal, der es unvernünftigerweise für vernünftiger hielt, darauf zu wetten, daß es den lieben Gott gibt, als darauf, daß es ihn nicht gibt.

Daß die Leute nicht wissen, wie sie wählen, können die Leserinnen und Leser sich mit einem einfachen Selbstversuch vor Augen führen. Setzen wir mal voraus, daß „der Wähler“, der sogenannte, einigermaßen weiß, was der Unterschied zwischen der Erst- und der Zweitstimme ist. Aber was ist der Unterschied zwischen Mehrheits- und Verhältniswahlrecht? Und wie wird bei einer Bundestagswahl gewählt? Na bitte. Keine Ahnung hat er, „der Wähler“, wie Wählen überhaupt geht und wie die Stimmen gezählt und gewertet werden. Er macht einfach munter seine Kreuzchen, und dagegen soll ja auch gar nichts gesagt werden. Das kollektive sonntägliche Kreuzemalen gehört zum festen Ritualrepertoire der Demokratie und stellt das Bindemittel „Legitimation“ zur Verfügung. Mit Entscheidungsrationalität freilich hat es nicht viel zu tun.

Die situationistischen Protestiererchen indessen, die aus der Wahl ein Laientheater machen, gehen im Wolfgangsee baden und wollen dann ihre Stimmen verkaufen. Das ist was für Infantilrebellen vom Schlage eines Schlingensief. Und erst diese komische Nichtwählerpartei, die von ihren Nichtwählern aber doch gewählt werden will. Wie originell. Wie bei „Alice in Wonderland“, wo zwei schräge Typen tagtäglich ihren Nicht-Geburtstag feiern. Ganz verdrießlich könnte ich da werden und aus lauter Nichtwahlverdruß glatt zur Wahl gehen. Bloß, ich hab' ja meine Karte schon weggeschmissen.

Zurück zur Wahl als Wette, festhalten, es wird ernst: Man kann gar nicht wissen, was man wählt – selbst wenn man Parteiprogramme liest, was kein vernünftiger Mensch macht, weil sie nichts wert sind; oder wenn man auf Versammlungen geht und dem weißen Rauschen der Kandidaten zuhört. Übrigens ist ihre Unberechenbarkeit in Situationen, die politische Richtungsentscheidungen verlangen, gar kein böser Wille. Berechenbarkeit und kontrollierbares Auftragshandeln funktionieren unten, oben regiert zwangsläufig der „politische Instinkt“, will sagen: die Irrationalität.

In den Worten des Anthropologen Ernest Gellner: „Die Leistungskraft unserer Gesellschaft hängt daran, daß die richtigen Leute für die richtigen Posten ausgewählt werden [...] Aber wie ist es an der Spitze? Oder wie ist es bei politischen Grundsatzentscheidungen? Umfassende Entscheidungen stellen vor Probleme, die zwangsläufig kompliziert sind und bei denen Erfolg oder Mißerfolg von vielen verschiedenen und auch von miteinander unvereinbaren Gesichtspunkten abhängen. In Ermangelung eines einheitlichen Kriteriums sind wir gezwungen, uns mit Bewertungsverfahren zufriedenzugeben, die unterhalb der ,rationalen‘ Ebene bleiben und eher intuitiver Natur sind.“ („Pflug, Schwert und Buch“, München 1993.)

Was also soll rational sein an der Wahl von Kandidaten, die in schwierigen Situationen unvermeidlicherweise Entscheidungen treffen, deren Rationalität fragwürdig ist? Wir können beim Wählen gar nicht wissen, welche Entscheidungen getroffen werden, weil die Gewählten es selbst noch nicht wissen. Wir schließen einfach eine Wette darauf ab, daß der Kandidat, den wir wählen, in schwierigen Situationen seinerseits die Entscheidung wählt, die wir auch gewählt hätten. Und dann warten wir ab, was „hinten rauskommt“, wie unser Kanzler einmal ganz richtig gesagt hat.

All das in Rechnung gestellt, ist Schröder, dem etwas schurkenhaft Opportunistisches anhängt, ein viel ehrlicherer Kandidat als Scharping, der sich immer so streberhaft angestrengt hat, über alles Bescheid zu geben. Schröder bleibt aufrichtig unpräzise und sagt nicht genau, was er tun wird, weil er es eben selbst noch nicht weiß. Sein Programm läßt sich in drei Worte zusammenfassen: Kommt drauf an. Und darauf muß es „der Wähler“ eben ankommen lassen, wenn er auf Rot setzt. Setzt er auf Schwarz, weiß er, was er hat, aber noch nicht, wer auf ihn zukommt.

Es gibt noch einen Grund, warum Wählen wie Wetten ist. Er hängt mit dem unausweichlichen politischen Ästhetizismus der Massendemokratien zusammen. In einem Fünftausend-Einwohner- Dorf wird der Bürgermeister auf einigermaßen vernünftige Weise aufs Schild gehoben, die Leute wissen, mit wem sie es zu tun kriegen. Und haben eine gute Chance, beim Wahlkampf Show und Wahrheit auseinanderzuhalten. Angesichts der sogenannten „hohen Politik“, die in den Massenmedien zur Aufführung gebracht wird, gibt es diese Chance nicht mehr. Der Wähler nutzt sie trotzdem.

In dem interessanten Buch „Politik als Theater“ von Thomas Meyer heißt es: „In den Grenzfällen theatralischer Politikinszenierung, in denen das Als-ob die ganze Regie übernimmt, nähert sich die Wahlentscheidung des Bürgers dem Handlungstyp der Wette.“ Dann: „Der wachsende Inszenierungsverdruß veranlaßt sensible Rationalisten“ (Danke!), „politische Ethiker und unbeugsame Verfechter der Mündigkeitsidee teils zur politischen Stimmenthaltung und teils zur Wahlentscheidung mit zusammengebissenen Zähnen.“ Professor Meyer, einer der politischen Programmierer der SPD, glaubt aber trotzdem, daß der Bürger unter dem Geröll der Kommunikationslügen den Rohstoff der politischen Aussage zutage fördern kann. Jedenfalls bei Schröder – sagt Meyer.

Die Politikwissenschaftlerin Sigrid Baringhorst sagt: „Je komplexer die gesellschaftliche Realität, desto unempfänglicher wird sie für politische Steuerungsinterventionen. [...] Die Herrschaftseliten reagieren auf das daraus resultierende politische Steuerungsdilemma mit einer von den Medien bereitwillig dokumentierten Flucht in den symbolischen Inszenierungszauber.“ (Transit Nr. 13, 1997)

Was also, frag' ich mich, glauben die Leute, was sie wählen, wenn sie glauben, sie wählen. Ich freu' mich auf den nächsten Fernsehabend mit Chips, Bier und Hochrechnungen.