„Interviews berühren mehr als ,Schindlers Liste‘“

■ Marco Esseling (30) befragt Holocaust-Überlebende für Steven Spielbergs Shoah Foundation

taz: Wie kamen Sie dazu, Shoa- Überlebende zu interviewen?

Marco Esseling: Ich habe als Student in einem jüdischen Altenheim gearbeitet und erfuhr über Mundpropaganda davon.

Aus welchem Grund führen Sie diese Interviews?

Aus Interesse und Überzeugung. Schon als Kind wunderte ich mich darüber, daß es in meinem Heimatort Vreden zwei jüdische Friedhöfe, aber keinen einzigen Juden gab. Die sind alle ausgewandert und nicht zurückgekehrt oder umgebracht worden.

Wie findet die Shoah Foundation Überlebende der Katastrophe, die Interviews geben wollen?

Über die Jüdischen Gemeinden, durch Zeitungen und Mundpropaganda.

Die Leute, die von ihren Erlebnissen erzählen wollen, treten also an Sie heran und nicht umgekehrt?

Ja. In Deutschland ist das Projekt inzwischen fast abgeschlossen. Viele der Überlebenden hier in München wollen keine Interviews geben. In dem jüdischen Altenheim wollten beispielsweise zwei oder drei von 50.

Wie gehen Sie in den Interviews vor? Gibt es einen Fragenkatalog?

Nein. Wir wurden drei Tage lang von Psychologen und amerikanischen Mitgliedern der Shoah Foundation in Berlin ausgebildet. Vorgegeben ist nur die Einteilung des Interviews in etwa 20 Prozent Vorkriegszeit, 40 Prozent Kriegsverfolgung und 20 Prozent Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Ansonsten machte man uns Fragevorschläge und brachte uns eine bestimmte Fragetechnik bei. Es ging darum, die Fragen möglichst offen mit Schlüsselwörtern zu stellen, etwa „Bitte beschreiben Sie das Familienleben vor dem Holocaust“. Die Ausbildung hatte eine stark psychologische Komponente, in der es beispielsweise darum ging, mit Tränen umzugehen. Ein paar Tage vor dem Interview trifft man dann die Person, um sich kennenzulernen.

Wie geht man mit Tränen um?

Die Mehrheit der Interviewten weint. Man läßt sie weinen, schaltet aber die Kamera aus, wenn sie es wünschen. Meine Erfahrung ist, daß sie sich nach wenigen Minuten wieder fangen. Die meisten weinen nicht wegen der eigenen Leiden, sondern um ihre Familie, etwa bei der Erinnerung daran, wie sie an der Rampe in Auschwitz zum letzten Mal ihre Eltern sahen.

Wie fanden Sie „Schindlers Liste“ in Anbetracht Ihrer eigenen Interview-Erfahrungen?

Filmisch gut. Er hatte auch eine wichtige Wirkung auf Schulklassen und ist sehr authentisch. Den Schluß, wo es heißt, Schindler hätte noch mehr Juden retten können, fand ich etwas pathetisch. Die Interviews, die ich mit Überlebenden führe, berühren mehr. Die meisten Überlebenden haben den Film übrigens nicht gesehen, weil es zu schmerzhaft gewesen wäre.

Welchen Eindruck hinterlassen die Interviews bei Ihnen?

Ich bin Historiker und beschäftige mich schon sehr lange mit dem Holocaust. Der persönliche Kontakt zu den Überlebenden geht jedoch viel näher als das Lesen einer wissenschaftlichen Abhandlung. Wenn ich beispielsweise sehe, wie ein 80jähriger Mann in Tränen ausbricht, berührt mich das natürlich. Es ist nicht die abstrakte Zahl sechs Millionen Toter, das einzelne Schicksal ist viel eindrücklicher. Viele der Personen, die ich interviewte, wurden Freunde. Interview: Katja Stiegel