Manche beachten die Fastenregeln das ganze Jahr

■ Die Preise in Rußland halten inzwischen mit der neuen Rubelrealität Schritt: Wer keinen Acker auf dem Lande oder Dollar-Rücklagen besitzt, den bringen die Preissteigerungen jetzt in arge Bedrängnis

Über eine Woche haben die Russinnen und Russen nun Zeit gehabt, sich an den immer weiter sinkenden Rubelkurs zu gewöhnen. Mitte vergangener Woche verlagerte sich der Boom von den Wechselstuben und Banken in die Geschäfte. Jetzt halten auch die Preise mit der neuen Realität Schritt, am meisten bei importierten Waren. Dazu gehören in Rußland über 50 Prozent aller Lebensmittel.

Aber auch die Preise für heimische Waren haben stark angezogen. Das „vaterländische Huhn“ etwa ist seit letzter Woche um ein paar Rubel teurer geworden: Zwischen 15 und 20 Rubel (gestern: 3,75 bis 5 Mark) das Kilo zahlen die Moskauer jetzt für das populäre Geflügel. Kabeljau kostet auf den Straßenmärkten in der Moskauer Vorstadt zwischen 19 und 22 Rubel pro Kilo, Kekse und Kuchen 16 bis 19 Rubel.

Für die hierzulande weitgehend importierten technischen Geräte steht die größte Teuerung vermutlich noch bevor. Wer deshalb in den letzten Monaten für ein Auto oder einen Kühlschrank sparte, hat sich in der Regel in den letzten Tagen von seinem Traum getrennt und statt dessen eine kleinere Anschaffung getätigt. Der Umsatz von Haushaltsgeräten, Unterhaltungselektronik und Computerzubehör hat sich in dieser Woche mehr als verdoppelt.

Die Sportlehrerin Valentina (53) zum Beispiel, Mutter der Studentin Sina (23) und Ehefrau des Rentners Petja (62), hatte sich gerade von einer Freundin etwas Geld geliehen und hoffte im Herbst noch etwas dazuzusparen, um eine neue Waschmaschine zu kaufen. Nun hat sie die Sparpläne in den Wind geschrieben und wenigstens schnell noch eine Küchenmaschine zum Zernschnippeln der Ernteerträge ihres Grundstücks auf dem Lande gekauft.

Die etwa 300 Kilometer von Moskau entfernte Datscha garantiert der Familie ein menschenwürdiges Leben. Petja, ein frühpensionierter Arzt, schuftet dort von April bis Ende September. Frau und Tochter sieht er praktisch nur in den zweimonatigen Schulferien. Valentina bekommt nach 30 Dienstjahren ein Gehalt von 1.000 Rubeln, Petjas Rente beträgt 460 Rubel. Die Hin- und Rückfahrkarte zum Familienacker auf dem Land kostet pro Kopf 100 Rubel – für die drei eine Ausgabe, die überlegt sein will. Sie bemühen sich, die Pendelei auf den Herbst zu konzentrieren und kehren dann jedesmal beladen wie die Lastesel nach Moskau zurück: mit Kartoffeln, roter Bete und Obst.

Von September bis Weihnachten lebt die Familie praktisch autark. In diesem Zeitraum hofft Valentina auch, ihrer Freundin die Schulden zurückzuzahlen, ehe ihr ein weiterer Inflationsschub zuvorkommt. Wie alle Moskauer Privatleute, die sich untereinander mit Geld aushelfen, haben die beiden die geliehene Summe in Dollar definiert. (Ein US-Dollar entsprach gestern nachmittag in Moskau 7,86 Rubel.) Im übrigen sieht Valentina die Dinge philosophisch: „In allen Dingen des täglichen Bedarfs kann man sich nicht bevorraten“, sagt sie, „Streichhölzer und Salz werden immer billig bleiben. Also werde ich auch immer auf meinem Gasherd Gurken einkochen.“

Dank gemeinsamer Anstrengung und der Datscha im Rücken hat bisher auch die Familie Schubin alle Wechselfälle der russischen Politik überlebt. Boris Schubin (65) ist Ombudsman für Beschwerden der BürgerInnen beim Moskauer Stadtparlament und betreibt seine Arbeit aus Idealismus. Seine beiden unverheirateten Töchter Nina (32) und Schura (34) haben als Architektin und Dolmetscherin gutbezahlte Posten – jedenfalls theoretisch. Schura arbeitet in einer Rüstungsfabrik, die gerade nicht die besten Zeiten erlebt. Im Juni hat man ihr zum letzten Mal Geld ausgezahlt – 20 Prozent ihres Februar-Gehaltes.

„Viele Menschen haben nichts mehr, was ihnen als Puffer gegenüber Preissteigerungen dienen könnte“, berichtet Boris Schubin. „Seit Mittwoch stürmen empörte BürgerInnen meine Beschwerdestelle. Die Inflation trifft sie direkt im Portemonnaie.“ Ebenfalls durch eine besondere Art von Philosophie hat ihn am Donnerstag die 84jährige Rentnerin Olga Iwanowa beeindruckt. Die Ex-Taxifahrerin beschwert sich zwar hin und wieder, aber mit religiösem Gleichmut. „Härter kann es nicht mehr kommen“, sagte sie ihm letzte Woche. „Jetzt werde ich die Fastenregeln das ganze Jahr über beachten. Das ist wenigstens nicht ungesund und bringt mich dem Himmel näher.“ Barbara Kerneck, Moskau