Ein Engel im Präsidentenpalast?

In Venezuela will eine Frau an die Spitze des Staates: Irene Saéz, Bürgermeisterin des Reichenviertels von Caracas. Vor ihrer Karriere als Politikerin war sie Schönheitskönigin – und die sind in Venezuela Göttinnen gleich  ■ Aus Caracas Ingo Malcher

Wer hier wohnt, hat es geschafft. Hohe Mauern schützen die Luxusapartments, am Eingang verschanzen sich Wächter hinter getönten Scheiben in ihren Aussichtslogen, sie haben die ganze Straße im Blick. In ihrem Gürtel stecken kleine Pumpguns, die eventuelle Einbrecher schon vor einem Einbruch vom Unsinn ihres Vorhabens überzeugen sollen. Kommt Besuch, so bitten die Uniformierten um den Ausweis, rufen in der Wohnung an und lassen erst dann die Geladenen vor. Diese wandeln dann auf niedlichen Brücken über den winzigen Springbrunnenteich, von dem man sich fragt, warum er gerade mitten in den Weg gebaut und nicht etwas dezenter zur Seite gesetzt wurde, zum Haupteingang. In Chacao, dem Nobelbezirk der venezuelanischen Hauptstadt Caracas, lebt es sich so gut wie mondän. Auf den Straßen werden die neuesten und größten Autos aus US-amerikanischer Fabrikation spazierengefahren, die Gehwege sind peinlich sauber, und selbst bei Nacht respektieren die Autofahrer die roten Ampeln.

In den Parks stören keine herabgefallenen Blätter und Äste auf dem Rasen, wenn die Rassehunde ausgeführt werden und ihr Geschäft verrichten müssen. Unbehelligt von den Straßenhändlern, die sonst überall im Rest der Stadt ihr Sortiment feilbieten, versuchen sich die Halbwüchsigen von Chacao mit Handy in der Hosentasche an ihren ersten Lungenzügen. Es ist so still in Chacao, daß man sie noch drei Blocks weiter husten hört. Das einzige, was die Idylle stört, sind die Moskitos, die durch das viele Grün angezogen wurden. Zu verdanken ist dieses wohlgeordnete Paradies der Reichen der ehemaligen Bürgermeisterin, der ehemaligen Miß Universum von 1981, Irene Saéz – meinen jedenfalls die Bewohner von Chacao. Nach Beendigung ihrer Modelkarriere hatte sich Saéz entschieden, in die Politik zu gehen. 1992 wurde sie zur Bürgermeisterin von Chacao gewählt. Sicherheit und Sauberkeit war ihr Programm, ganz auf die Klientel des Viertels zugeschnitten. Das Wahlergebnis, mit dem sie 1996 ihre zweite Amtszeit antrat, war sensationell: 96 Prozent aller Wähler stimmten für sie. So viel Zustimmung war noch nie in Venezuela, und so entschied sich Saéz, nun auch für das Präsidentenamt zu kandidieren. Freilich formuliert sie es anders: „Die Leute haben mich dazu auserwählt.“

Eine Partei hatte sich schon vor der ersten Bürgermeisterwahl schnell gründen lassen, nicht ganz zufällig wurde sie „IRENE“ getauft. Und damit niemand den Vorwurf des Personenkults erheben möge, ergibt die Abkürzung „IRENE“ auch noch einen Sinn. Sie steht für: „Integration, Reputation, Neue Hoffnung.“ Na bitte. Natürlich wird sie von vielen, gerade von vielen Männern, nicht ernst genommen. Denn erstens ist sie eine Frau, dazu attraktiv und auch noch blond, und obendrein war sie einmal Model und Miß Universum. Ihr Abschluß in Politikwissenschaft wird gerne vergessen. „Als Frau ist es sehr schwer, erfolgreich zu sein, noch schwerer ist es als junge Frau erfolgreich zu sein“, klagt sie.

Eine ehemalige Miß Universum, die in Venezuela zur Präsidentschaftswahl antritt, das ist etwa so, als ob es Diego Maradona in Argentinien versuchen würde oder Jürgen Klinsmann in Deutschland, kurz nach dem Gewinn einer Weltmeisterschaft. Wenn alljährlich die Miß Venezuela gewählt wird, dann bringt es der ausstrahlende Fernsehsender auf eine Einschaltquote von 94 Prozent. Die Schönheitsköniginnen sind in Venezuela Göttinnen gleich. Am Tag des Wettbewerbs steht das Land still.

Wo Saéz auftaucht, steht sie sofort im Mittelpunkt. Zur Prozession in das bei Caracas gelegene Dorf San Francisco de Yares fliegt sie mit dem Helikopter ein. Da es in dem Nest keinen Hubschrauberlandeplatz gibt, muß sie auf dem Sportplatz landen, nur der Platzwart ist eingeweiht. Seine Kinder vertreiben sich die Warterei, indem sie mit einem krummen Ast und einer Getränkedose Baseball spielen. Es riecht nach Lagerfeuer, und die Sonne brennt auf den Ort herunter. Mit Sonnenbrille und Funkgerät lehnt sich ein Leibwächter lässig an seinen Jeep, seine Leibesfülle macht es ihm, wie es scheint, unmöglich, beim Atmen den Mund zu schließen. Die Motoren des Autos laufen, obwohl vom Hubschrauber noch jede Spur fehlt. Dann endlich kommt sie. Der Jeep wird langsam rückwärts auf den Platz rangiert, sie hüpft geduckt aus dem Helikopter, trägt eine Weste, wie sie von deutschen Pauschaltouristen gerne auf Fotosafaris getragen werden. Darunter strahlt ein grell orangefarbenes Baghwan-Hemd.

Sobald sie erkannt wird, brüllt es von allen Seiten „Irene!“, als käme der Messias persönlich die Straße herabmarschiert. Routiniert geht sie auf ihre Jünger zu, gibt Küßchen und fragt, wie es denn so geht. Sie soll das auch schon in Fahrstühlen der Geschäftshochhäuser von Caracas getan haben, was leichte Verwirrung bei den ungefragt Geküßten hinterlassen hat. Sie streichelt krause Kinderköpfe, läßt sich Babys zum Küssen hochreichen und lächelt. Ihre Anhänger schauen zu ihr auf und versprechen sich Hilfe. Der Bischof des Orts empfängt sie mit der gesamten Ordensbruderschaft; vor dem winzigen Häuschen der Kirchenmänner rangeln Fotografen und Passanten um die Wette, denn die Presse ist bei dem Gespräch zwischen Messias und Bischof nicht zugelassen.

Das Gedrücke um Irene will den ganzen Tag nicht aufhören. Ihr blondes Haar strahlt in der Sonne. Für viele ist sie, wenn schon nicht der Messias, dann wenigstens eine Engelsfigur. Sie wollen sie berühren, küssen, oder wenigstens aus der Nähe sehen. Wann immer Irene kann, läßt sie sich das bieten. In die Prozession eingereiht, ist sie wichtiger als die Heiligenkästchen, die der Bischof der Reihe nach segnet. Einige Kirchengänger murren, „das ist eine religiöse Prozession und keine politische Veranstaltung“, aber in Wahlkampfzeiten ist das ohnehin egal und Everybody's Darling Irene überhört es daher auch lieber.

Oscar Mondragon, einer der Teufelsdarsteller in der Prozession, freut sich, daß Saéz „jedes Jahr kommt, so wird unsere Tradition wenigstens berühmt“, und er geht zu ihr und bindet ihr sein rotes Kopftuch über das blonde Haar. Während der Prozession versuchen Kirchenjugendliche mit T-Shirts „Ich sage nein zu Drogen“ den Gast abzuschirmen, doch vergebens. Ein großer Pulk von Kamerateams und Fotografen will Saéz zwischen den roten Teufeln von Yares ablichen, Radiostationen interviewen sie während der Messe.

Saéz' Programm erfüllt alles, was in Südamerika derzeit im Wahlkampf Mode ist: Sie verkauft sich als unabhängige Kandidatin und zieht gegen die „traditionellen Parteien“ vom Leder. Sie verspricht, mit den Armen zu sein, denn nur mit ihnen gewinnt man Wahlen, will aber gleichzeitig die Reichen nicht angreifen, denn das würde der Popularität nur schaden. Seit eine der großen alteingesessenen Parteien Venezuelas, COPEI, ihr ihre Rückendeckung zugesichert hat, wird das Antiparteiengerede freilich unglaubwürdig. „Ich akzeptiere Unterstüzung, gehe aber keine Verpflichtungen ein“, versucht sie den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, aber jeder weiß, daß eine solche Wahlunterstützung nicht umsonst zu haben ist. Sie verspricht Dinge, die sie selbst nicht halten kann, die sich aber gut anhören: „Unser Venezuela soll zu einem Land der ersten Welt werden“, frohlockt sie. Mit klaren programmatischen Aussagen hält sie sich lieber zurück. Die Wirtschaft soll sozialverantwortlich sein, und damit es wieder aufwärtsgeht, muß die hohe Inflation beseitigt werden. Bloß wie, das sagt sie nicht. Der Staat soll entschlackt werden, und die Macht muß in die Hände der Bürger, „denn die Macht gehört den Bürgern.“

Als Bürgermeisterin von Chacao hat sie recht erfolgreich Politik gemacht. Sie hat eine neue Polizei gegründet, sie in schicke Uniformen gesteckt, und dafür gesorgt, daß der Bezirk sicherer wird. Sie hat die medizinische Versorgung in ihrem Bezirk geregelt. Aber sie hatte es vergleichsweise leicht. Denn den Bezirk Chacao hat es vor ihrer Amtsübernahme nicht gegeben. Sie konnte aus dem vollen schöpfen und alles ganz nach ihren Vorstellungen formen. Sie mußte keine Altlasten aus dem Rathaus entsorgen, gegen keine etablierten Seilschaften kämpfen. Und das wichtigste: Sie hatte Geld – Chacao ist der reichste Bezirk Venezuelas. Die Polizei von Chacao wurde komplett neu geschaffen: Weil kein Platz für das Hauptquartier da war, bezog sie im untersten Stockwerk einer Tiefgarage Quartier. Die Beamten sehen in den Straßenhändlern, die ohne Genehmigung ihre Waren verkaufen, das größte Problem. Wer die Erlaubnis der Verwaltung nicht nachweisen kann, muß ins Verlies unter Tage. In den winzigen Zellen ist es heiß und stickig, Tageslicht kommt hier unten niemals herein.

Saéz gilt als harte Arbeiterin und als fleißig. Ihr Wahlkampfkalender ist von früh morgens bis nachts voll von Terminen. Sie läßt sich die Kampagne eine Menge Geld kosten. Ihn ihrem weiß, rosa, zartblau angemalten Wahlkampfhauptquartier, der „Quinta Irene“, nennen sie ihre Mitarbeiter respektvoll „La Jefa“ – die Chefin. In den Büros hängen an den Wänden unzählige Fotos von ihr, immer strahlt sie mit dem schulterlangen blonden Haar in die Kamera.

Schon öfter konnte sie sich als guter Engel profilieren. Als die Firma Mattel die Produktion der Barbie-Puppe von Venezuela nach Kolumbien verlegte, drohten die 900 Arbeiter der Herstellerfirma Rotoplas auf die Straße gesetzt zu werden. Saéz sprang ein und akzeptierte die Produktion einer „Irene-Puppe“. Jetzt kann man die Präsidentschaftskandidatin im Spielzeugladen kaufen. Und natürlich war das erste Kleid der Irene- Puppe ein getreues Abbild des Kleides, das die echte Irene Saéz als Miß Universum im Jahre 1981 trug.

„Ich will an dem Land etwas ändern“, antwortet sie mit ihrer tiefen, sanften Stimme auf die Frage, warum sie in den Präsidentenpalast will. „Außerdem mache ich dann meine Arbeit, ich bin schließlich Politologin“, fügt sie hinzu. „Aber bis dahin haben wir noch viel Arbeit vor uns“, gesteht sie ein.

Ihr Privatleben hat sie bislang immer gut unter Verschluß gehalten. Von zwei Ex- freunden weiß man, der eine war ein Banker, der das Land nach dem Bankrott seiner Bank verlassen mußte, der andere war ein Sohn des scheidenden Präsidenten Caldera, der als der korrupteste Minister der Regierung gehandelt wird. Kein Wunder, daß Saéz ihr Jungfrauenimage kultiviert. Wird sie auf ihr Liebesleben angesprochen, so gibt sie pathetisch zur Antwort: „Meine Liebe ist Venezuela.“