Werdet Bauarbeiter!

■ Aktionskünstler Joachim Fischer enttarnt Bremer Baustellen als Kunstwerke. Bei Führungen erläutert er seinen erweiterten Kunstbegriff, der Beuys in den Schatten stellt

Ironisch und verschmitzt ist die Kunst in den letzten Jahren geworden. Und Joachim Fischers Stadtführung „zum Thema: Baustellen sind Kunst im öffentlichen Raum“ scheint sich lückenlos einzufügen in die lange Liste der Selbstveräppelungen der Kunst. Aber wer solches denkt, kennt den Friedensaktivisten und Hungerstreiker schlecht. Der ernste Mann meint die Sache mit der Baustellenkunst natur(ell)gemäß tiefernst – und überzeugte sehr schnell rund ein Dutzend Menschen, das ihm kürzlich von der Baustelle Bischofsnadel zur Baustelle Bahnhofsplatz folgte. 90 Minuten diskutierte man angeregt über die ungebändigte Schönheit rostschimmernder Tramschienen oder über den Symbolwert von freigelegten Kanalrohren: Sie machen die verborgenen Vernetzungen zwischen den Häusern und Menschen sichtbar.

Eigentlich denkt Joachim Fischer nur Duchamp und Andy Warhol konsequent zu Ende. 85 Jahre nach Entdeckung des Ready-mades in der Kunst sollten wir eigentlich so weit sein, daß wir keinen Künstler mehr brauchen, der uns wie Kleinkinder bei der Hand nimmt, mit dem Finger auf einen Flaschentrockner oder eine Campbellsuppendose zeigt und sagt: Da, schau hin, auch die kleinen Dinge des Alltags sind Kunst, und es läßt sich ganz trefflich in ihrer Gesellschaft philosophieren.

Würde man eine Baustelle auf den Vorplatz des Kasseler Fredericianums verpflanzen, würde jedermann ihre ästhetische Qualitäten ad hoc erkennen. Und haben wir nicht schon alle mal aus einer kalkbefleckten gelben Badezimmerfliese viel mehr herausgelesen als aus einem Mark-Rothko-Bild? Weiß das zarte helle Schimmern der Margarine, nachdem es sich durch dicke Erdbeermarmeladenschicht hindurcharbeitete, nicht manchmal mehr über lebensspendene Energien als eine Beuyssche Fettecke? Strengestgenommen würde durch die bundesweit flächendeckende Verbreitung von Baustellen, ungenügend gereinigten Badezimmern und Marmeladenbroten die documenta überflüssig. „Ich brauche kein Museum Weserburg“, meint Fischer denn auch. Diese Aushebelung des Kunstbetriebs durch grenzenlose Steigerung unserer Sensibilität ist vielleicht auch der Grund, warum Künstler und Mesumsleute bei allem Gelalle über die Verquickung von Kunst und Leben nicht so weit gehen wie Joachim Fischer. Sie würden sich selbst abschaffen. Oder zumindest ihrer Arbeitsplatz. Wenn Beuys es richtig ernst gemeint hätte mit seinem „Jeder Mensch ist ein Künstler“, dann hätte er eigentlich kein Recht mehr gehabt, für ein Beuyswerk Millionenbeträge abzuzocken.

Aber auch Joachim Fischer, im Hauptberuf Lebensmittelchemiker, beschränkt sich nicht auf Echtkunstführungen, sondern möchte weiter Kunst machen, Laternenpfähle mit rot-weißem Bauband umwickeln oder Deutschlandfahnen in Kothäufchen stecken, wenn es Innensenator Borttscheller mit seiner nationalistischen Asylpolitik allzu arg treibt.

Daß sich Baustellen inmitten der unübersehbaren Fülle von Dingen ganz besonders gut als Objekt des künstlerischen Blicks eignen, erkannte schon Tom Tykwer mit seinem Film „Das Leben ist eine Baustelle“. Die Baustelle ist die ideale Metapher für unsere Gesellschaft als ganzes, aber auch für jedes individuelle Leben. Doch es gibt auch Unterschiede zwischen Mensch und Baustelle. „An der Baustelle Joachim Fischer wird ständig gearbeitet, zu einem Ende kommen wird sie wahrscheinlich nie.“

Das Zeitalter des Barock bediente sich gleich eines Haufens von Emblemen, um unser Leben zu bebildern: Das wechselnden Winden ausgesetzte Schiff erzählte von der Wankelmütigkeit unserer Existenz, der Totenkopf von der Vergänglichkeit und der Baum vom steten Wachsen. Die Baustelle hat durch ihre überbordende Komplexität den Vorzug, daß sie Wachsen, Vergänglichkeit und vieles mehr in einem beinhaltet. So kann sie zum Beispiel als Essay über Chaos und Ordnung gelesen werden: Wo der flüchtige Begutachter nur einen wüsten Haufen von Krempel wahrnimmt, waltet vielleicht in Wahrheit ein durchdachtes System; vielleicht sind die Materialien für das nächste Stockwerk genauestens vorbereitet.

Am wichtigsten ist Joachim Fischer bei der Baustelle die Idee der Veränderung – und vor allem, daß so viele daran teilhaben können und müssen; ganz im Gegensatz zur Politik, wo wir die Politiker ihren Unsinn treiben lassen und tatenlos dabei zusehen. „Werdet Bauarbeiter“, ruft deshalb Fischer – und meint damit zum Beispiel Protestieren gegen Castor, Ausländerfeindlichkeit etc. Die meisten Leute engagieren sich nicht für ihre Ziele mit der Begründung, es führe zu nichts. Aber Baustellen wachsen ja auch, wenn auch oft unscheinbar, Stein für Stein. Von ihnen sollten wir lernen.

Wer solche Gedankengänge nur lustig oder albern findet, der möge einmal Joachim Fischer begleiten bei seinen Führungen. Auf Schritt und Tritt entdeckt man wunderbare Materialkombinationen, interessante Oberflächenstrukturen, ein flüchtiges Graffito hier, einen herrenlosen Helm dort: Wie passen so konträre Elemente wie Zement und Stahl zueinander? Wer hat den Helm beiseite gelegt? Interessantere Fragen stellt die Kunst von studierten Profis meist auch nicht. Fischers Theorie hat vor allem einen entscheidenden Vorteil: Sie ist der perfekte Langeweile-Killer in allen Lebenslagen. Wenn man mal wieder wartet – auf sein Rollo oder das Grün der Ampel, dann catcht man sich ganz einfach einen Flicken Straßenwirklichkeit und studiert es als Kunst. Das Hirn hat Futter, die Langeweile ist gebannt. Die Welt ist ein einziges großes Undercover-Kunstwerk. Täglich sollten wir es enttarnen. Vielleicht werden einmal Zeiten kommen, wo professionelle Museumsmenschen durch das Freiluft-Kunstwerk Stadtlandschaft führen, Ampeln mit Jenny Holzer vergleichen und Mittelstreifen mit Rembrandt. bk