Dialog auf dem Dach der Welt

■ China signalisiert eine ungewohnte Offenheit in der Tibet-Frage. Der Grünen-Politikerin Antje Vollmer entgeht das nicht. Bei ihrer Reise durch Tibet sucht sie nach neuen Verhandlungsoptionen zwischen Peking und dem Dalai Lama. Bisher mit erstaunlichem Erfolg.

Die Sutras der zum Gebetstag in gelbe Roben gehüllten Lama- Mönche klingen erzählerisch, fast fröhlich. 60 von ihnen, die jüngsten kaum volljährig, die ältesten im Greisenalter, hocken vor dem heiligsten Buddha Tibets, dem Jobo Shakayamumi und singen fünf Stunden – ohne Unterbrechung. Vorne sitzt der Gebetsführer mit kantiger Brille, dem Dalai Lama zum Verwechseln ähnlich. Unmerklich schwingend, scheinbar in Meditation verfallend, zuckt er bei jedem Taktwechsel jäh auf und verrät seine volle Wachsamkeit.

Der Jokhang-Tempel in der Altstadt von Lhasa, der die Verwüstungen der Kulturrevolution nicht unbeschadet überstand, ist das heute wieder lebendige Zentrum des tibetischen Buddhismus. Tausende von Pilgern strömen täglich zu seinen Pforten, und nicht selten findet sich unter ihnen der ein oder andere westliche Politiker. Sie kommen meist der Empörung halber, wohl wissend, daß ein bißchen Kolonialismuskritik auf dem „Dach der Welt“ stets die unersetzliche Weihe der heimischen Medien erfährt.

Die Macht des Klerus muß reduziert werden

Nicht so Antje Vollmer. Die grüne Starpolitikerin und Bundestagsvizepräsidentin gilt ohnehin als Vertraute des Dalai Lamas, dem von Mao Tse-tung vertriebenen Gottkönig, der seit 40 Jahren die tibetische Exilregierung führt. Jetzt ist die Grüne zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres in Lhasa. Doch statt angewidert dem chinesischen Unterdrückungsstaat zu zürnen, sucht sie die Distanz zum Mythos vom lamaistischen Gottesstaat.

Teilweise unbeobachtet reist Vollmer über die Dörfer, allein in Begleitung deutscher Entwicklungshelfer, ihr Besuch wird nicht von den chinesischen Behörden dirigiert. Kritisch beäugt die westliche Theologin die Pilger vor dem Jokhang-Tempel, wie sie die Hände über den Kopf heben, die Arme über Stirn und Brust hinunterziehen, bis ihre Knie einbrechen und der Körper vornüber auf die Pflastersteine klatscht. „Mit einem Neuanfang in Tibet muß die Reduzierung der Macht des Klerus einhergehen“, fordert Vollmer. Sonst lägen die Tibeter ihren Befreiern erneut zu Füßen.

Überzeugungen dieser Art bilden die Grundlage einer heimlichen Vermittlungsstrategie der deutschen Parlamentarierin mit den Pekinger Besatzern: Bereits im August 1997 konferierte Vollmer zum Erstaunen deutscher Diplomaten eineinhalb Stunden mit dem damaligen Präsidenten des chinesischen Volkskongresses, Quao Shi. Einziges Thema: Die Rückkehr des Dalai Lama nach Tibet. Vor wenigen Tagen empfing der einflußreiche Politiker Hu Qili Vollmer in Peking. Hu attestiert der Grünen anschließend „Aufrichtigkeit, Engagement und guten Willen“. In Pekinger Regierungskreisen heißt es, Vollmer trage ihr Herz auf der Zunge – ein Ausdruck des Respekts, der auf chinesisch anders als im deutschen keine Gefühlsduselei unterstellt.

So kann die Grüne als erste westliche Politikerin die neue Tibet-Offenheit der KPCh ausloten, ihre Vermittlungsbemühungen finden in enger Absprache mit dem Dalai Lama statt. Parteichef Jiang Zemin persönlich hat im Juni die neue Tonart angegeben, als er auf einer Pressekonferenz mit dem gastierenden US-Präsidenten Bill Clinton einen Dialog mit dem Dalai Lama in Aussicht stellte und auf die bisher üblichen Anschuldigungen, der Friedensnobelpreisträger betreibe die Spaltung Chinas, verzichtete. Seither gilt die Tibet- Frage in Pekinger Regierungskreisen erneut als ungelöst. Vollmer entgeht das nicht.

Peking attestiert der Grünen guten Willen

Ihr Vortrag vor dem renommierten Institut für Internationale Studien in Peking ist ein erneuter Versuch, den Kommunisten systematische Überlegungen zu einer neuen Religionspolitik näherzubringen. Die grüne Politikerin erzählt die blutbefleckte Geschichte des Konkordats zwischen Staat und Kirche in der europäischen Geschichte, weil sie glaubt, daß nur ein Kompromiß zwischen Religion und Politik die Zukunft Tibets sichern kann. Die Rede ist von einem „Vatikan-Modell“, das den religiösen Autoritäten bei Nichteinmischung in politische Angelegenheiten volle Unabhängigkeit garantiert. Nicht nur für Peking, das seit Jahrtausenden keine souveränen religiösen Institutionen toleriert, beinhaltet diese Idee Neuland. Auch die Exiltibeter verfügen bislang über kein Konzept, das das Nebeneinander von KP und Klerus in Tibet denkbar macht.

Vollmers jüngster Vermittlungsversuch hat einen historischen Vorläufer. Bereits in den achtziger Jahren verhandelten die Pekinger Kommunisten mit dem weltlichen und religiösen Oberhaupt der Tibeter. Der Versuch scheiterte an beiden Seiten: Die Tibeter verlangten die Neugründung Großtibets in den Grenzen vergangener Jahrhunderte. Die Kommunisten schossen aufständische Mönche nieder. Allerdings hat sich die Lage vor Ort inzwischen gebessert.

Zu Buddha-bekehrten Hollywoodstars und deutschen Esoterikern geht Vollmer auf Distanz: Von einem „kulturellen Völkermord“, wie ihn auch der Dalai Lama noch beschwört, gibt es keine Anzeichen. Zwar herrscht weiterhin ein brutaler politischer Unterdrückungsapparat. Anfang Mai kamen bei Gefängnisprotesten zehn Häftlinge ums Leben. Doch im Alltag bleibt die tibetische Kultur weitgehend unangetastet. Vor allem auf den Dörfern, wo 80 Prozent der Tibeter leben, bewahrt der Dalai Lama bis heute sein Ansehen: Kein Bauernhaus, das Antje Vollmer während ihrer fünftägigen Tibet-Tour besucht, in dem nicht das Antlitz des Gottkönigs die Betwand schmückt.

Diese allerorts spürbare Sehnsucht nach der Rückkehr des Dalai Lama inmitten eines Lebens, dem jeder materielle Fortschritt ferngeblieben ist – das ist es, was Tibet im Westen so populär macht und Peking in die politische Enge treibt. Aber auch das gibt es: Eine Bäuerin, die den Gast aus Deutschland in ihre Hütte bittet, wünscht sich zuallererst einen Gasherd – egal ob ihn die KP oder der Dalai Lama finanziert. Georg Blume, Lhasa