Kleine Scharmützel rund um Berlin

Zehntausende Berliner ziehen jährlich aus der Hauptstadt in die Gemeinden rundum. Aber statt der ersehnten Idylle im Grünen gibt es Ärger mit den Alteingesessenen um Alleen, Sportplätze und die richtige Art zu leben  ■ Aus Schönwalde Vera Gaserow

Ein Ort, den man erfinden müßte, wenn es ihn nicht schon gäbe. Wie geschaffen für ein Leben in zwei Welten. Zehn Autominuten, und man ist mit dem Kopf noch in der deutschen Hauptstadt, mit den Beinen aber schon in einem brandenburgischen Dorf. Schönwalde heißt das Dorf, und so sieht es auch aus. Wer wie Lothar Schleede aus Berlin hierher gezogen ist, gerät ins Schwärmen: Morgens die Reiher und abends die Füchse und nur fünfzehn Minuten zur U-Bahn und zwanzig zum Flughafen – aber „hier“, Schleede steigt in die Bremsen seines Lieferwagens, „das war der erste Sündenfall“. Hier hat es angefangen: 200 Pappeln einer verwunschenen Allee, gefällt am hellichten Tage. Ein Frevel, wie zum Zeichen genau dort begangen, wo Berliner Allee und Schönwalder Straße aufeinandertreffen, um eins zu werden. Jetzt sieht man auch den Graben wieder.

Wo der Wassergraben verläuft, war früher tödliche Grenze. Von Schönwalde aus hätte man rüberspucken können nach Berlin. Doch weil dieses Berlin „Westen“ war, mußten die Dorfbewohner um die halbe Stadt fahren, um in ihr Berlin, Hauptstadt der DDR, zu gelangen. Natürlich hätten umgekehrt auch die Berliner den umständlichen Weg nach Schönwalde antreten können. Nur gab es so recht keinen Grund dafür.

Heute gibt es viele Gründe. 900 zugezogene Berliner können nicht irren. Bauland ist günstig und wirklich noch Land. In der Waldsiedlung warten weitere 1.000 Grundstücke auf das ortsübliche Schild: „Hier entsteht ein Einfamilienhaus“ mit Berliner Telefnonnummer darunter. Schönwalde ist das geworden, was die Hauptstädter besitzergreifend „das Umland“ nennen. Rund 35.000 Berliner sind allein im vergangenen Jahr in „ihr“ Umland gezogen. Karawanen von Umzugswagen haben vor Einfamilienhäusern und Wohnparks den Hausrat von Stadtflüchtlingen entladen. Wohnen im Grünen, arbeiten in der Stadt, gut für die Kinder, Balsam für die Seele – Sand im Gefüge von kleinen ostdeutschen Gemeinden wie Schönwalde.

„Fünf zerstochene Autoreifen“

Es knirscht allerorten im Speckgürtel der Hauptstadt, zwischen Alteingesessenen, die man auch schon mal „Eingeborene“ nennt, und den Zugezogenen, die „Wessis“ heißen, selbst wenn sie aus dem Osten kommen, oder, schlimmer noch, „Berliner“. Ost–West, Stadt–Land, Reich–Arm, Jung– Alt – nirgendwo verknoten sich die Gegensätze so wie hier. Unterschiedliche Lebensentwürfe und Biographien sorgen für handfeste Spannungen, manch ganz normaler Streit um das Rasenmähen wird gleich auf die Herkunft des Nachbarn geschoben.

„Fünf zerstochene Autoreifen und einmal Autolackieren“, so viel haben Rainer Meyer die fünf Jahre Schönwalde „gekostet“. Wenn einer hier „Berliner“ ist, dann ist es der Rheinländer Meyer – vielreisender Angestellter, erfolgreich, dynamisch. Er möchte niemandem unrecht tun, nicht verallgemeinern. Deshalb braucht Meyer fast eine Stunde, bis er von den kaputten Reifen und anderen „unschönen Dingen“ berichtet. Das letzte „Ding“ war ein Brief an seinen damaligen Arbeitgeber, die Siemens AG. Ob das Unternehmen eigentlich wisse, was der Herr Meyer als Fraktionsvorsitzender der Schönwalder SPD so treibe und woher der denn all die Zeit für die Politik habe? Fragte der Lebensgefährte einer PDS-Gemeinderätin an, ganz wie in alten Zeiten.

„Irgendwie“ kann Rainer Meyer die Schönwalder ja verstehen: hohe Arbeitslosigkeit, 80 Prozent Rückübertragungsansprüche auf Grundstücke und Häuser, vor jedem neuen Eigenheim zwei Autos, und in der eigenen Wohnung fällt der Putz von den Wänden, „da kommt Neid auf“. „Anfangs“, sagt Meyer, „ist man nicht mit offenen Armen empfangen worden, aber auch nicht mit Ablehnung. Doch das Zusammenleben ist schwieriger geworden. Das geht bis zur Feindseligkeit.“ Wäre da nicht die himmlische Ruhe, das neue Haus, der nahe Flughafen, Meyer hätte „die Schnauze längst vollgehabt“. Noch einmal würde er nicht „in den Osten“ ziehen.

Von gut 3.000 Schönwaldern haben seit der Wende 700 ihren Ort verlassen, „Rückübertragungsansprüche“, Bürgermeister Bodo Oehme macht eine wegwischende Handbewegung, einige im Ort sprechen von Vertreibung. Im Gegenzug sind 900 Neueinwohner gekommen, „Berliner“. Schönwalde hat sie, wie alle Gemeinden im Speckgürtel der Hauptstadt, mit Bauland und Wohnanlagen umworben. In zwei Jahren wird das Dorf die doppelte Einwohnerzahl haben, alteingesessene Schönwalder werden in der Minderheit sein. „Man kennt einfach niemanden mehr“, beinahe täglich hört man schon jetzt diese Klage.

„Die Leute kommen, und das ist ihr gutes Recht. Acht Jahre nach dem Mauerfall können wir uns nicht abschotten“, sagt Bürgermeister Oehme, hauptamtlich „in der Versicherungsbranche“, und hebt zum lang unterdrückten Aber an, „aber die Zuzuzügler können nicht einfach sagen: Wir machen jetzt alles anders. W e r ist denn bitte schön w o h i n gezogen?“

Zuzügler sind anders und machen alles anders. Alteingesessene auch. Wer die ins Umland gezogenen Freunde befragt, hört als erstes ein „gut geht es uns, schön ruhig ist es hier“. Die Leute? „Na ja, nicht viel Kontakt, wir sind meistens zu Hause.“ Zu vorgerückter Stunde kommen dann all die Geschichten, die wie Klagen aus der Diaspora klingen: Geschichten von zertrampelten Beeten und zerkratzten Autotüren, von Nachbarn, „die nicht mal den Goldhamster in Pflege nehmen“, von Eltern, die auf Elternabenden „das Maul nicht aufkriegen“, von Farbbeuteln an frischgeweißten Häuserwänden, von B-Nummernschildern, die man besser vom Auto montiert, um nicht rüde ausgebremst zu werden, von Schulkameraden der Kinder, „die bei Berlinern nicht übernachten dürfen“, von „nie wieder Sylvester im Dorfkrug“, mit Wildecker Herzbuben vom Band und strippenden Dorfschönen auf dem Tisch.

Umgekehrt hört man über „die Berliner“ ähnliche Klagen. In Schönwalde klingen sie folgendermaßen: „Nicht einmal grüßen können die“, „kutschieren dreimal täglich ihre Kinder nach Berlin, als wenn unsere Schulen nicht gut genug wären“, „kaufen im ,Edeka aktiv‘“, wo man sich an der chromblitzenden Wursttheke verläuft, obwohl doch im „Kaiser's Minimarkt“ die Butter zwanzig Pfennig billiger ist. Die Verkäuferinnen tuscheln, wenn die Kundschaft aus dem Laden ist: „Aus Berlin kommen, aber sich auch noch beschweren“, und „Erst ziehen sie hierher, weil's ihnen hier gefallen hat, und dann wollen sie uns vorführen, wie man alles anders macht.“

Daß sie alles anders machen, die Berliner, ist schlimm genug. Noch schlimmer ist, wenn sie wollen, daß alles so bleibt, wie es ist: die ländliche Idylle, die Natur, die grüne Wiese, die keinem Einkaufsparadies weichen soll, die prachtvollen Bäume, die nicht mehrgeschossigen Wohnanlagen geopfert werden dürfen. Zuzügler wollen Natur und Ruhe, deshalb sind sie hergezogen. Alteingesessene wollen, daß es endlich brummt. Vogelgezwitscher schafft keine Arbeitsplätze. Nachtigallen, Spechte, Rotkehlchen, dazu acht vom Aussterben bedrohte Vogelarten, 150 Jahre alter Baumbestand, vier Ameisenhaufen – Lothar Schleede, Fachmann für ökologische Heiztechnik, kann sich in Rage reden, wenn er von dem „größten Sündenfall“ berichtet, der all das gefährdet. Der Sündenfall, das ist der Fußballplatz, der neben dem Strandbad im Wald entstehen soll, wenn der „Verein“ ihn nicht noch verhindert.

„Nicht einmal grüßen können die“

Schleede ist Schatzmeister des „Vereins“. Nicht daß die alten Schönwalder etwas gegen Vereine hätten, sie sind ja selbst im Heimat-, Hundesport-, Feuerwehr-, Gesangverein. Aber dieser hier heißt – ausgerechnet! – „Verein zur Erhaltung und Förderung des Charakters von Schönwalde“. Als ob „die Berliner“ wüßten, was das ist! Der Verein stellt Bebauungs- und Flächennutzungspläne in Frage, löchert Gemeinderäte, das ist man nicht gewohnt in Schönwalde. Er bringt das kommunalpolitische Machtgefüge durcheinander, will jetzt sogar zu den Kommunalwahlen antreten, er schreibt Flugblätter, „Woher die das Geld nur haben?“, und will vor allem das eine: den schönen Sportplatz verhindern. Solange aber kein neuer Sportplatz da ist, blockiert der alte in zentraler Ortslage den Schönwalder Traum vom Einzug „des Investors“.

Ein Fußballplatz mit Schallschutzwänden, Zuschauerbänken, parkenden Autos, johlenden Fans – mitten im Wald. Schleede stöhnt auf, „wir müssen doch nicht alle Fehler, die im Westen gemacht wurden, hier noch einmal machen“. So was kann nur ein Wessi, ein „Berliner“, sagen. Da können zu Schleedes Vereinsmitstreitern auch naturliebende Ossis gehören, für das meinungsmachende Lokalblättchen firmieren sie als „Wessi e.V.“.

„Heute gründet jeder gleich einen Verein“

Nicht daß Rentner Wolfgang Hagen etwas gegen „Wessis“ hätte, jedenfalls nicht so direkt. Wenn die auf der gegenüberliegenden Straßenseite bauen, „bitte, ist doch schön, fegt der Ostwind nicht mehr so rüber“, bloß „daß sich von uns niemand solche Häuser leisten könnte“ und „daß die immer auf dem Grünstreifen parken. Und wenn sie die Autotür aufmachen, springen zwei Hunde raus, Kinder haben die ja keine“, und daß eben früher alles anders war, „da wurde was angeordnet, und dann wurde das gemacht. Heute gründet jeder gleich einen Verein.“

Wolfgang Hagen hat auch nichts gegen Vereine. Sein Verein heißt Schönwalder SV 53, ehemals „Stahl Schönwalde“, hat 124 Mitglieder und ist der Club, für den der neue Sportplatz im Wald entstehen soll. „Dort hinten“, Hagen löst die Hände von seinen Hosenträgern und zeigt in ein Waldstück, „da bolzen die Jungs seit Jahren, und nie hat sich jemand beschwert. Und jetzt meinen diese Leute, ein Sportplatz im Wald ist zu laut oder schadet den Bäumen. Dabei werden für ein Einfamilienhaus mehr Bäume gefällt als für unseren Platz. Aber ich sag' ja nichts mehr.“

Was in Schönwalde der Sportplatz ist, ist im Nachbarort die Asbeststraße, einige Kilometer weiter der Abwasserkanal durch ein Naturschutzgebiet. Symbole eines Konflikts um unterschiedliche Interessen und trotzige Auflehnung gegen eine Entwicklung, die man nicht aufhalten kann. Wie auch immer der Konflikt um den Sportplatz in Schönwalde ausgehen wird, der Ort wird sich unwiderruflich verändern. Das ahnen auch die alten Schönwalder. Man wird leben müssen mit den neuen Bewohnern. Nur verstehen tut man sie nicht, diese „Querschießer“, diese „Flugblatthansel“, diese „Ameisenschützer“, die abends in ihren Gärten sitzen und den Bürgersteig nicht harken, die tags mit dem Auto nach Berlin zur Arbeit fahren, aber trotzdem eine Geschwindigkeitsbegrenzung zum Schutz für wandernde Kröten fordern.

Wolfgang Hagen „sagt ja nichts mehr“, nur daß ihm so was einfach nicht in den Kopf geht, denn: „Sagen Sie mal selbst, der Kröte ist es doch egal, ob sie mit 30 Stundenkilometern oder mit 50 überfahren wird.“