Pop, komm raus...
: Penetration X

■ Auf der Popkomm triumphiert die Synästhetik – doch wo bleibt Berlin?

„Mögen Sie Köln?“ fragte der Repräsentant von Primus Only teaserisch ins Publikum, bevor er die Katze aus dem Sack ließ. „60 tolle Arbeitsplätze“ habe er zu vergeben, in einem dynamischen elektronischen Unternehmen – „von den Peoplen her“. Das war ganz schön nett von dem Mann, weil: Arbeit ist es doch, was unserem Gemeinwesen fehlt, gleichzeitig aber extrem eklig.

Popkomm 98: Der impressionistische Teil der Messe hat sich verbraucht. Klar, es wurde getrunken, was das Zeug hält, schon um am nächsten Morgen mit dem Kater angeben zu können. Dieter Gorny hat eine neue Frisur (jetzt mit noch mehr Seriosität); und immer, wenn er auf einer Pressekonferenz nicht aufkreuzte, wurde – wie sagt man? – gemunkelt, das sei ein Zeichen, jetzt treffe er sich gerade mit SPD-Ministerpräsident Clement zu einem ganz entscheidenden Gespräch. Genau an solchen, tja: Schnittstellen entstand auch das Gefühl, das Entscheidende passiere unter Ausschluß der Öffentlichkeit, die, nun: Benutzeroberfläche der Messe sei bloß ein Vorwand, um nicht in die Tiefe des Digitalen blicken zu müssen, wo Zahlenkolonnen und Wirtschaftsdaten vorbeirattern...

Der Kongreßschwerpunkt, der sich den Vermarktungsmöglichkeiten von Musik im Netz widmete, bewegte sich denn auch formal im Rahmen eines Managerseminars und inhaltlich auf dem Niveau einer Computerzeitschrift. Einig war man sich darin, daß musikalische Inhalte mit enorm hoher „Penetrationsgeschwindigkeit“ das Internet erobert haben. Vertreter von Firmen, die diesen Akt vorantreiben, veranschaulichten das in diversen Präsentationen. Daß die Dröhnung aus dem Internet kommen wird, muß nicht mehr diskutiert werden, die Frage ist bloß, in welchem Maße die alte Vorstellung eines „Tonträgers“ sich damit wortwörtlich liquidiert. Sie nennen es „Streaming media“.

„Streaming“ meint die Einspeisung aller Medien ins Netz, und zwar in aufeinander abgestimmter Form. Während der Musiktitel läuft, kann man auf dem Bildschirm zugleich das Video sehen, ein Fenster mit der Tracklist aufrufen, den Beipackzettel hinabscrollen, und an der unteren Bildleiste läuft bereits der Merchandizing-Katalog. Ein Triumph der Synästhetik, zweifelsohne, doch wie soll man diesen Kurzschluß noch nennen? Ist es ein Vogel, ein Flugzeug, ein digitaler Prospekt? Fernseh-, Film-, Radio- und Textfunktionen verschwimmen im Fenster des Multimedia-Endgeräts zu einer Super- Website, auf der sich, je nach Perspektive, die Zukunft des Infotainments spiegelt oder der Schluß aller Lustigkeit im elektronischen Freizeitknast.

Auch wenn damit zunehmend der „content“ – das Musikalische an der Musik – den Bach runtergeht: Aus Firmensicht ist das vor allem ein juristisches Problem. Piraten lauern an den Handelswegen des Netzes. Und das Diebesgut ist kaum mehr dingfest zu machen. Zwar behaupten einzelne Anbieter, ihr „elektronisches Wasserzeichen“ sei dermaßen fest installiert, daß es auch anschließende analoge Kopien übersteht – also der ursprüngliche PC-Inhaber noch rekonstruierbar ist, wenn der Zoll bloß einen Container voller Audiokassetten im Hafen von Shanghai beschlagnahmt –, doch Restriktionen im Internet waren schon immer dazu da, unterlaufen zu werden.

Der zweite Kongreßschwerpunkt galt einem nur scheinbar PC-freien Zukunftsmarkt: dem spätestens mit dem Erfolg von „Titanic“ durchgeschlagenen Boom der Soundtrack-CDs. Filme wie „Jackie Brown“ oder „Boogie Nights“ recyceln Stimmungen der letzten 25 Jahre – und mit ihnen die alten Hits. Hier ist noch längst nicht alles ausgeschöpft. „Wo im französischen Film einmal die Landschaftsschwenks waren, kann heute ein Song sein“, wie ein Panelist es aus europäischer Sicht formulierte. Bild- und Tonspur des Lebens wuchern zusammen, das Album zum Film mit dem Superhit aus der Fernsehwerbung ist dann per Computer bestellbar.

Und wo bleibt bei alldem die Hauptstadt? „Ein neues Format in Berlin. Ein neues Format für Berlin“ verspricht „Berlin Beta“, ein junges Kreativteam, das schon in allernächster Zukunft eine Art Popkomm der Clubkultur am Ort etablieren will. Der ganz große Run auf diese Idee blieb allerdings vorerst aus. Regelmäßige Kontrollgänge über den Messeparcours sahen entweder den Hauptbetreiber Marc Wohlrabe verwaist im schmucklosen Geviert; oder aber man traf auf befreundete Aktivistinnen, die sich bei Mineralwasser von MTV und Frigeo-Brause vom Jugendmagazin jetzt amüsierten.

Indes: Es gibt auch Vorausweisendes zu berichten. Stephan Balzer von der „LAVA- Gesellschaft für Digitale Medien“, desgleichen bei Berlin Beta involviert, glänzte mit professioneller Moderation im Kongreßrahmen. Und mit Tom Tykwers „Lola rennt“ konnte sich erstmals ein hauptstädtischer Film mit multimedialer Hipness aufladen. Die „Welturaufführung“ wurde nach allen Regeln des Event-Marketing in einem Open-air-Kino am Rheinufer zelebriert, die Single ist termingerecht in die Top Twenty eingestiegen, der Soundtrack wird folgen.

Der Crossover-Preis des Monats geht ohnehin an die Spree. Wie bereits der Presse zu entnehmen, schaffte es der hauptstädtische Jazzkomponist Hennig Bardo, die zwei deutschen Nationalhymnen mit dem Schlager „Goodbye Johnny“ zu einer Art Übermedley zu kreuzen. Auf solche Ideen ist man bislang selbst in Köln nicht gekommen. Thomas Groß