Offiziell Muslim, ansonsten Niederländer

Mehr und mehr junge Muslime in den Niederlanden leben nicht mehr ernsthaft nach den Regeln des Korans. Dabei hat der Islam in Bildungseinrichtungen mehr Fuß gefaßt als in Deutschland. Viele muslimische Eltern entscheiden sich jedoch für eine gute Schule, unabhängig von der Religion  ■ Von Jeannette
Goddar

Mina traute ihren Ohren nicht. Eines Tages kam ihre Tochter mittags aus der Schule, setzte sich an den Tisch und fing leise an, das Lied „Jesus ist geboren“ zu summen. Die 33jährige Marokkanerin starrte das Mädchen an. „Das will ich nicht“, sagte sie, „wir sind Muslime. Was du in der Schule machst, ist mir egal, aber zu Hause will ich so etwas nicht hören.“ Die Kleine guckte sie an, als wüßte sie nicht, wovon ihre Mutter spricht.

Ihre Verwirrung ist verständlich – wächst das Mädchen doch in zwei verschiedenen Welten auf. Vormittags besucht sie in Amsterdam eine christliche Schule, weil ihre Mutter – „Ich weiß, wie es ist, in ein fremdes Land zu kommen und nach Jahren immer noch nicht auf dem gleichen Niveau zu sein wie die anderen“ – glaubt, daß sie dort besser ausgebildet wird. Nachmittags besucht die Zehnjährige den Koranunterricht in einer nahe gelegenen Moschee. Wenn sie dazu keine Lust hat, kann sie aber auch einfach zu Hause bleiben.

Die Schülerin steht stellvertretend für eine ganze Generation junger Muslime, die in den Niederlanden heranwachsen und sich von den Werten ihrer Eltern oft meilenweit entfernen. Ihre Familien stammen aus Marokko, der Türkei oder Indonesien; die Kinder verstehen sich als Amsterdamer oder Rotterdamer – selbst wenn sie wie selbstverständlich ein Kopftuch tragen oder den Koran lesen.

Auch Erziehungswissenschaftler machen bei muslimischen Immigranten in den Niederlanden einen bemerkenswerten Trend hin zu einem westlichen Erziehungsstil aus. „Oft läßt sich der Wandel schon innerhalb einer Familie ablesen“, sagt der Rotterdamer Soziologe Trees Pels, „die Ältesten wurden noch autoritär und streng islamisch erzogen; die Jüngeren unterscheiden sich kaum noch von ihren weißen Klassenkameraden. Das hat auch mit dem Einfluß der Kinder zu tun. Die nehmen sich schon ihre Freiheiten.“

Marokkanische Eltern, die als die autoritärsten galten, werden so immer liberaler. „Heute wird in den Familien über Dinge geredet, die früher völlig tabu waren“, erzählt eine Amsterdamer Sozialarbeiterin. Durch diesen Wandel, so hofft sie, würden die Jugendlichen in Zukunft vielleicht auch besser integriert. Bisher weisen sie unter den Immigranten die höchsten Schulabbrecherquoten auf. Fünfzehn Prozent der Zwölf- bis Siebzehnjährigen, die mit der Polizei in Berührung kommen, sind Marokkaner.

Die zunehmende „Niederlandisierung“ muslimischer Eltern könnte vor allem deutsche Innenpolitiker stutzig machen, hat sich doch westlich der deutschen Grenze über Jahrzehnte exakt die islamische Gemeinschaft entwickelt, vor der hier immer gewarnt wird: Knapp 680.000 Muslime leben in dem Fünfzehn-Millionen- Einwohner-Land, die meisten von ihnen stammen aus der ehemaligen Kolonie Indonesien, aus Marokko oder der Türkei. In den Metroplen Amsterdam und Rotterdam stellen sie in manchen Stadtteilen das Gros der Bevölkerung.

Und sie haben sich Strukturen geschaffen, von denen ihre deutschen Kollegen nur träumen können: Seit den siebziger Jahren, als, wie in Deutschland, die meisten von ihnen anreisten, haben sie über vierhundert Moscheen gegründet, davon nicht wenige mit staatlicher Unterstützung. Dazu gesellen sich vierzig islamische Grundschulen sowie der Koranunterricht an vielen staatlichen Schulen.

Es gibt islamische Krankenhäuser, Friedhöfe und Schlachtereien. Da auch hier die ersten ehemaligen Gastarbeiter in die Jahre kommen, werden derzeit die ersten islamischen Altenheime gegründet. Islamische Rundfunkprogramme sind in die niederländischen Radiostationen integriert. Seit ein paar Jahren versucht die niederländische Regierung allerdings auch, stärkeren Einfluß auf die Bildung „ihrer“ Immigranten zu bekommen.

Spätestens seit der „Niederländische Islamische Rat“ vorigen Herbst eine private Universität gründete, deren Finanziers nicht offen in Erscheinung treten, wird mit vereinten Kräften daran gearbeitet, die Bildungshoheit zurückzuerlangen.

In Leiden entsteht zur Zeit auf Initiative des bisherigen Bildungsministers Jo Ritzen ein „Institut zum Studium des Islam in der modernen Welt“. In dessen Gründungsdokument findet sich unter anderem der Punkt „Mission“ – ein deutliches Zeichen dafür, daß die Regierung nicht ganz uneigennützig versucht, Einfluß auf eine neue islamische Elite zu nehmen.

Aus ähnlichem Grund sollen künftig Imame ausgebildet werden, anstatt sie aus muslimischen Ländern zu importieren. Die damit verbundenen Probleme sind die gleichen wie in Deutschland: Viele sind von ausländischen Regierungen geschult oder stehen auf der Gehaltsliste fundamentalistischer Organisationen.

Viele Moscheegänger empfinden Imame zudem als wenig integrativ. Sie bemängeln vor allem, daß diese aus einer völlig anderen Welt kommen als sie. Selbst die traditionell einwanderungsfeindliche rechtsliberale VVD, eine der drei Regierungsparteien, befürwortet die Imam- Ausbildung – wenn sie denn dem Zweck diene, mehr Einfluß zu bekommen.

Bei dem Aufbau eigener Strukturen sind den Einwanderern die Überreste der sogenannten Versäulung in den Niederlanden entgegengekommen. Bis in die sechziger Jahre lebten dort Protestanten und Katholiken fast völlig voneinander getrennt. Anhänger der beiden großen Religionen wählten „ihre“ Parteien, lasen „ihre“ Zeitungen, organisierten sich in evangelischen oder katholischen Sportvereinen und besuchten oft sogar getrennte Schwimmbäder. Mischehen waren so gut wie unbekannt.

Auch wenn die versäulte Gesellschaft längst offiziell aufgehoben wurde, ist es für Gruppen aller Art immer noch relativ leicht, autonome Strukturen zu schaffen. Die Möglichkeit wird von den meisten dankbar angenommen. „Das einzige Mittel, das viele Immigranten haben, um sich nicht ausgeschlossen zu fühlen, ist nun mal die Bildung einer eigenen Gruppe“, sagt der Journalist Özkan Gölpinar stellvertretend für viele. „Die Säulen haben nicht nur eine gesellschaftliche, sondern auch eine psychologische Funktion.“

All dies kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch viele Niederländer die „Islamisierung ihrer Städte“ fürchten. Laut Umfragen glaubt jeder dritte, daß fast die Hälfte der Muslime fundamentalistische Ansichten vertreten. Eine andere umstrittene Hochrechnung geht davon aus, daß der Islam im Jahr 2020 die einflußreichste Religion im Polderland ist. Diesem Glauben hat das statistische Bundesamt CBS im Frühjahr erstmals Zahlen entgegengesetzt: Von den 673.000 Muslimen gingen gerade einmal 100.000 mehr oder weniger regelmäßig in die Moschee. Unter den Jüngeren sei es nur jeder zehnte. Gerade bei Jugendlichen ist eine immer rasanter fortschreitende Säkularisierung feststellbar.

Die Zahlen bestätigen, was Islamforscher seit Jahren beobachten. Wasif Shadid, Professor an der katholischen Universität Brabant, schätzt, daß „höchstens vier Prozent als fundamentalistisch bezeichnet werden können. Sie sind vergleichbar mit protestantischen Fundamentalisten: Sie sind fromm und tun niemandem etwas.“

Abdulwahid van Bommel, niederländischer Muslim und Publizist, teilt die Jugendlichen in drei Gruppen auf. Bei fünf bis zehn Prozent sei der Glaube ebenso ausgeprägt wie in der Elterngeneration. Zwanzig bis dreißig Prozent fühlten sich als Muslime, wüßten aber oft nicht, wie sie ihrer Religion einen modernen Sinn geben sollen. Trotzdem versuchten sie mit Hilfe religiöser Werte in einer säkularisierten Welt zu überleben. Die große Mehrheit ist nur noch auf dem Papier Muslim. „Sie beten nicht, gehen nicht in die Moschee, trinken Alkohol und rauchen. Wenn sie während des Ramadan fasten, dann nur ihren Eltern zuliebe. Viele von ihnen geben ihren Glauben wahrscheinlich eines Tages ganz auf.“

Daß diese Erkenntnisse auch in Holland in krassem Gegensatz zu den Selbstbildern vieler Jugendlicher steht, weiß man hier auch. Weit über die Hälfte erklärt auf Nachfrage, der Islam spiele eine bedeutende Rolle in ihrem Leben. „Zu sagen, ich glaube nicht, ist immer noch tabu“, sagt der Utrechter Islamwissenschaftler Nico Landman. „Sich vom Glauben zu distanzieren wird als Verrat an der Gemeinschaft gesehen, das Sich-nicht-an-die-Vorschriften-halten nicht. Der Mensch ist nun einmal schwach.“