Münchner Richter segnen Sippenhaft im Eiltempo ab

■ Der 14jährige „Mehmet“, dem 60 Delikte zur Last gelegt werden, und seine Eltern, die in Deutschland seit 30 Jahren unbescholten leben, dürfen ausgewiesen werden

Berlin/München (taz) – Warnung an alle bayerischen Väter und Mütter, die nicht jodeln können und keinen deutschen Paß besitzen: ab sofort sind ihre Kinder ein persönliches Sicherheitsrisiko. Denn nichtdeutsche Eltern werden, auch wenn sie sich selbst nie etwas zuschulden kommen ließen, mit Abschiebung bestraft, wenn ihr Kind kriminell wird. So lautet der Tenor einer Eilentscheidung, mit der das Bayerische Verwaltungsgericht gestern die Ausweisung des 14jährigen, „Mehmet“ genannten Jungen samt seiner Eltern für Rechtens erklärt hat. Das Gericht erteilte damit der Sippenhaft seinen Segen und hat mitten in Wahlkampfzeiten einen folgenschweren Präzedenzfall geschaffen.

Die Richter wiesen den Widerspruch von Mehmets Eltern gegen die Ausweisungsverfügung der Stadt München zurück. Das „jahrelange schwer kriminelle Auftreten“ des Jungen rechtfertige seine Ausweisung in die Türkei, argumentierten die Richter. Obwohl Mehmet bei den ihm zur Last gelegten rund 60 Delikten noch ein Kind war, genieße er keinen Abschiebungsschutz, denn seine Eltern würden ja mit ausgewiesen. Es liege im „dringenden öffentlichen Interesse“, die Gefährdungen, die von Mehmet ausgingen, „baldmöglichst durch Entfernung aus dem Bundesgebiet“ zu beenden. Hinter diesem Interesse hätten auch die Belange der Eltern zurückzutreten. Um eine schnelle Abschiebung der Familie zu ermöglichen, will die Münchner Staatsanwaltschaft sogar auf ein Strafverfahren gegen Mehmet wegen Raubes verzichten, das in Deutschland durchgeführt werden müßte.

Das Verwaltungsgericht folgte mit seiner gestrigen Entscheidung einer absurden juristischen Konstruktion der Stadt München: Sie warfen Mehmets Eltern, die seit 30 Jahren unbescholten in Deutschland leben, eine grobe Verletzung ihrer Aufsichtspflicht vor. Damit hätten sie gegen eine Generalklausel des Ausländerrechts verstoßen, die bei wiederholten Rechtsverstößen mit Ausweisung droht. Einen Rechtsverstoß hatten bisher jedoch weder das Münchner Jugendamt noch die Staatsanwaltschaft angezeigt. Das Jugendamt hatte im Gegenteil immer betont, die Eltern hätten allen pädagogischen Hilfen bis hin zu Zwangsmaßnahmen gegen ihren Sohn zugestimmt. Offenbar traute selbst die CSU dieser wackeligen Rechtskonstruktion nicht, denn sie hat mittlerweile eigens eine Gesetzesinitiative in den Bundesrat eingebracht, die Verletzung der Aufsichtspflicht als Ausweisungsgrund ins Ausländergesetz aufzunehmen.

Bayerns Innenminister Günther Beckstein (CSU) teilte am Abend mit, die Abschiebung von Mehmet werde bis zur Beschwerdeentscheidung des Verwaltungsgerichtshofs (VGH) ausgesetzt. Der Bundesausländerbeirat kritisierte das Urteil als „skandalös“. Damit werde der „schäbige Versuch der Münchner Ausländerbehörde, ein menschenverachtendes Exempel zu statuieren, auch noch gerichtlich sanktioniert“, erklärte der Beiratsvorsitzende Murat Cakir. Vera Gaserow