Kultivierte Langeweile

Reinhold Dosch ist seit dreißig Jahren Mitglied einer Freimaurerloge in Berlin. Der Mysterienbund habe ihn davor bewahrt, lebenslänglich nur über das Wetter reden zu müssen. Statt dessen fand er ein Forum gleichgesinnter Männer, um über Gott und die Welt sprechen zu können. Ein Portrait  ■ von Uta
Andresen

Ziemlich häßlich, das Textil. Braun- beige Knüpfarbeit, sechzigerjahremäßig. Aber diese Symbole! Wer als Kind professioneller Schatzsucher war, würde verstehen. Dieser alte Ritualteppich im Treppenhaus der Freimaurerloge in der Berliner Heerstraße. Reinhold Dosch bleibt davor stehen. Andächtig. Erzählt von den Steinquadern darauf, von Salomons Tempel mit dem Auge Gottes im Giebel. Oder den sieben Stufen bis hinauf. Die sieben, sagt Dosch, ist eine heilige Zahl. Er mag Zahlen. Nur von der Sonne, dem Mond und dem Stern, davon sagt Reinhold Dosch kein Wort. Die „Profanen“, die Uneingeweihten, sollen schließlich nicht alles wissen.

Dosch spricht gern von Steinen. Der Mensch mit all seinen Macken sei „ein unbehauener Stein“ beispielsweise. Der fertige Mensch, der alle Fehler abgelegt habe, „ein perfekter Kubus“. Der gebrochene Mensch gleiche „einem zerborstenen Stein, an dem die Werkzeuge falsch angesetzt wurden“. Dosch fühlt sich wohl in seinem Steinbruch. Von Beruf ist er Ingenieur.

Da können Menschen leicht zu Steinen werden. Ohne Zweifel werden sie es dann, wenn das Freimaurertum nicht nur jeden Donnerstag und jeden vierten Sonntag im Monat (Wandern) beansprucht, sondern auch die Feierabende am Schreibtisch, an denen Dosch ein Lexikon über die Freimaurer verfaßt. „Systematisch“ geht er vor, momentan ist er „bei M“.

Reinhold Dosch. Ein Helm aus grauem Haar. Den Pony rund geschnitten. Zum dezenten hellgrauen Anzug eine dieser handbemalten Seidenkrawatten, in orange. Weniger dezent. Imposante Aktentasche, obwohl er schon in einem Alter ist, in dem man eigentlich nicht mehr ins Büro geht, sondern den Tag in seinem Garten verbringt. Mit der Aktentasche aber glaubt man ihm gern, daß er lange Zeit Redner war in seiner Loge.

Daß er bei den Tempelarbeiten, dem wöchentlichen Zeremoniell, hinter dem hellblauen Pult gestanden und gesprochen hat. Langsam, bedächtig, ein wenig ehrpusselig vielleicht. Aber stetig. Jahrelanger unermüdlicher Umgang mit Sprache macht's. Reinhold Dosch erzählt viel und verrät nichts.

Gewissenhaft beantwortet er jede Frage nach der Symbolik der Freimaurer. Danach, ob es nicht rückständig sei, keine Frauen aufzunehmen. Oder ob die Geheimniskrämerei um sein Hobby nicht überholt sei. Ebenso präzise überhört er Fragen: Was genau bei den wöchentlichen Tempelarbeiten passiert; was hinter dem hellblauen Seidenvorhang im Tempel steckt; welche prominenten Mitglieder die Freimaurer haben. Dosch gibt einem das Gefühl: wie lästig. Seine einzige Erwiderung ist: „Darüber sprechen wir nicht.“ Die Freimaurer seien eine „diskrete Gesellschaft“. Punkt.

Und das macht sie spannend. Für die Profanen – wie für die Brüder. Auch für Reinhold Dosch. Und zwar seit dreißig Jahren. Damals war er gerade vierzig geworden. Ein Bekannter hatte ihn angesprochen und gefragt, ob er nicht einmal mit „auf so einen Vortrag“ kommen wolle. Dosch wollte und kam immer wieder.

Seine Frau habe damals gesagt, ihn noch nie „so aufgekratzt“ gesehen zu haben. Konnte doch ihr Mann endlich mal über mehr „als nur das Wetter“ reden, konnte seine Langeweile kultivieren. Nach einem halben Jahr wurde Dosch Lehrling. Erst dann durfte er an den Tempelarbeiten der Johannisloge „Zur Treue“ in Berlin teilnehmen. Johannisloge, weil alle Freimaurer Johannes den Täufer als ihren Schutzpatron betrachten.

„Humanitati“ steht über dem Eingang – in goldenen Lettern. Ein Ort der Humanität soll also das Haus in der Berliner Heerstraße sein, in dem sich fünfzehn Berliner Logen treffen. 1740 stiftete Friedrich der Große die „Große National-Mutterloge zu den drey Weltkugeln“. Die Drei, sagt Dosch, ist eine bedeutungsschwere Zahl. Man denke nur an die Dreifaltigkeit der christlichen Kirche. Insgesamt gibt es zwölf Interpretationen des Großlogennamens. Für Dosch gibt es nur die eine, die schönste: „In mir ist eine Welt. Um mich herum ist eine Welt. Und über allem ist eine Welt.“

Das Ritual, mit dem Dosch in die „Treue“ aufgenommen wurde, ist 150 Jahre alt. Sicher brannten bei seiner Aufnahme im Logentempel die Kandelaber mit den wuchtigen Kerzen. Vermutlich wurde der blaue Arbeitsteppich unter dem blauen Deckengewölbe abgedeckt. Der „Meister vom Stuhl“, wie der Vorsitzende der Loge genannt wird, eröffnete mit einem Hammerschlag die Zeremonie.

Die Brüder versammelten sich um den Arbeitsteppich, kreuzten die Arme vor der Brust und faßten sich an den Händen. Sangen zum Schluß ihr Kettenlied. Vielleicht lag auch ein Totenschädel auf dem Tisch. Wie auch in Braunschweig im Jahre 1738 einer auf dem Tisch lag, als Friedrich der Große in den Freimaurerbund aufgenommen wurde, wenn man einem alten Stich glauben darf. Vielleicht.

Wer etwas über Freimaurer erfahren möchte, muß lesen. Und zusammenreimen. Das ist wohl auch der Grund, warum alles, was man über sie schreibt, nur „zum Teil richtig und fast immer falsch“ ist, wie Dosch betont.

Religion spielt bei den Freimaurern keine Rolle, zumindest nicht die Weltreligionen, man hat schließlich seine eigene Mystik. In Doschs Loge sitzen Christen, Juden, auch ein Muslim. „Wir glauben an den allmächtigen Baumeister aller Zeiten, also an ein allmächtiges Prinzip – das reicht“, sagt Dosch. Über Politik und Religion sprächen die vierzig Mitglieder der „Treue“ (“wenn dreißig kommen, können wir zufrieden sein“) bei den Logentreffen nicht. Zumindest nicht konkret. Abstrakte Diskussionen sind erlaubt, Streitgespräche nicht.

Daß Reinhold Dosch schon nach einem halben Jahr als Bruder aufgenommen wurde, ist ungewöhnlich. Meist vergeht ein Jahr „loser Verbundenheit“ mit der Loge. Daß das bei ihm schneller ging, lag daran, daß die deutschen Freimaurer in den sechziger Jahren mit Nachwuchsproblemen zu kämpfen hatten. Die nach dem Zweiten Weltkrieg übriggebliebenen Logen waren komplett überaltert und – nach der Hatz durch die Nationalsozialisten – zudem stark ausgedünnt.

Reinhold Dosch verbringt viel Zeit in der „Welt der Maurer“. Seiner Familie soll es recht sein, meint er. „Meine Frau hat sich nie beklagt“, sagt er. Wie auch, da sie sich nie ausgeschlossen gefühlt habe. Genauso wenig wie die Söhne, von denen einer schließlich auch mal Freimaurer werden will. Es gebe ja die Sonntagswanderungen mit der Loge, an denen die Familien teilnehmen dürfen.

Seine Betonung liegt auf dürfen, denn Freimaurerei ist nur etwas für Männer. Nein, verwahrt sich Dosch. „Wir sind doch ein demokratischer Verein“, sagt Dosch eifrig. Man könnte ja beschließen, Frauen aufzunehmen. Hat sogar mal jemand beantragt – vor zwei Jahren. Und da sei eben beschlossen worden, Frauen nicht aufzunehmen. Die hätten die Tempelarbeiten der Freimaurer ja auch nicht so nötig, da sie „gemütvoller“ seien als Männer. Außerdem hätte das Konsequenzen.

Wer Frauen aufnimmt, zählt nicht mehr zu den regulären Logen, die nach den „alten Regeln“ der Londoner Großloge arbeiten. Und überhaupt, es gibt doch Frauenlogen. Die praktizierten ähnliche Rituale wie die Brüderlogen. Auch historisch ließe sich erklären, warum es keine regulären Freimaurerinnen gebe: Es gab nun einmal keine weiblichen Steinmetze.

Eine gehässige Frage, aber: Sind die Freimaurer eine Sekte? Dosch verneint. Jeder in der Loge könne selbständig denken, ein Gruppenzwang existiere nicht. Was ihn seit über dreißig Jahren bei der „Treue“ halte, seien eben sektenferne Grundprinzipien, wie sie alle Freimaurer hoch hielten: Humanität, Toleranz, Friedensliebe. Honorig, dieser Verein.

Doch manchmal, da geht es gar nicht so ehrenhaft zu in der Loge. Zum Beispiel dann, wenn es „Stunk“ darüber gibt, ob man ans Deckengewölbe des Tempels nun Sterne klebt oder nicht. Doch Dosch hält der „Treue“ die Treue. Trotz der Tatsache, daß bei so manchem Schulfreund „die Klappe fiel“, als er von der Logenzugehörigkeit erfuhr. Trotz der vielen Zeit, die die Loge fordert. Es ist dieses „Über-Gott- und-die-Welt-Reden-Können“ mit Gleichgesinnten, was Dosch hält. Auch Logen können Selbsterfahrungsgruppen sein. Für Dosch sind die Logentreffen ein „ethisch-sittliches Gegengewicht zum Materiellen“. Geld würde ja immer wichtiger, in der heutigen Zeit. Und ohne Eigennutz würde heute doch eh keiner mehr etwas tun. „Es gibt nur noch zweckgebundene Vereine – es fragt doch niemand mehr danach, wie man es mit der Religion hält oder so.“

Das Lamento eines alternden Mannes über eine Welt, die sich von ihm und ohne ihn fortentwickelt? Nicht doch. Schließlich sei das jüngste Mitglied der „Treue“ erst dreiundzwanzig. Allerdings, Dosch räumt es zögerlich ein, die meisten sind „so um die sechzig“. Er sogar noch älter, genaugenommen.

Vielleicht, überlegt Dosch, ist er ja auch nur dabei, weil er als Ingenieur arbeitet. Er müsse sich tagsüber mit so vielen rationalen Dingen beschäftigen. Da sei die Freimaurerei eine Bereicherung für ihn. Sie pflege eine Kultur, die es heute nicht mehr gebe, leider. Sie spreche das Gefühl an, pflege den Ritus. Die Freimaurerei als Mysterienbund – eine vielleicht bizarre, aber gewiß betuliche Variante des Kegelklubs.

Apropos. Auch Logen machen Ausflüge. Einmal, erzählt Dosch, sei die „Treue“ von Schönefeld nach Finnland geflogen – noch zu „DDR-Zeiten“. Da hätten die Volkspolizisten das Gepäck gefilzt und die Bijous, die Rangabzeichen der Maurer, sowie die weißblauen, linnenen Schurze und Handschuhe entdeckt, die jeder Maurer im Tempel trägt.

„Die haben vielleicht mal gestaunt“, erinnert sich Dosch noch heute ausgesprochen gern. Und wie zog man sich aus der Affäre? Einer der Brüder, sagt Reinhold Dosch, hätte den so ratlosen wie irritierten Vopos glaubhaft versichern können, man sei nichts weiter als eine Karnevalsgesellschaft.