Deconstructing Woody

Woody Guthrie, Pete Seeger, Hank Williams: Drei Compilations beschwören drei Ikonen der Prä-Rock'n'Roll-Ära – Folk als Urform des Liedgut-Samplings inklusive  ■ Von Thomas Groß

Pete Seeger ist so ziemlich das Letzte, was der Rockmusik in den vergangenen dreißig Jahren gefehlt hat, oder? Ich meine Pete „We Shall Overcome“ Seeger, der Jugendherbergsvater des Folk, bärtig über ein einzelnes Banjo gebeugt! Die undigitale Erscheinung per se, wahlweise höchstens noch sui generis! Doch mit den Archiven, die in elektronischen Zeiten immer stärker auf die Gegenwart übergreifen, wird die Erinnerung neu aufgemischt. Und seit einigen Wochen ist auch dieses antike Modell in Form eines Tribute-Samplers wieder in der Umlaufbahn, dicht gefolgt von einer Reverenz an Woody Guthrie und einer Hommage an Hank Williams.

Künstler aus aller Welt haben es möglich gemacht, ihr Herzblut investiert in Tapes mit Neuinterpretationen, die unter der Ägide jeweils eines Ideengebers zwischen New York, London, München, Dublin, Toronto und kleineren Locations der kommunikativen Internationale zirkulierten. Den Gesetzen der Häufung und des Sommerlochs zufolge ergibt das heutzutage bereits so etwas wie einen Trend. Zurück zu den Vätern oder: Es ist ja nicht alles schlecht gewesen in der alten Zeit. Bloß: Welche Figur machen Pete, Woody und Hank, die Paten wahrerer Empfindung, wenn sie erst einmal neben Compilations wie „Sushi 4004 – the Return Of Spectacular Japanese Club Pop“ oder „The Future Sound Of Jazz Volume 14“ in den Regalen zu stehen kommen?

Der Witz ist: So weit liegen Sampler und Sampling gar nicht auseinander. Billy Bragg zum Beispiel hat sich in Zusammenarbeit mit den amerikanischen Neo-Traditionalisten Wilco am nachgelassenen Fundus von Woody Guthrie zu schaffen gemacht. Ein Engländer mit Arbeiterklassenakzent, später Adept des Protestsongs, der das US-amerikanische Original beerbt. Nobilitiert wird das Unternehmen durch Nora Guthrie, Woodys Tochter: Sie gab Texte des fahrenden Sängers zur Vertonung frei. „Das Ergebnis ist kein Tribute Album“, schreibt BB im Begleitheft, „sondern eine Zusammenarbeit zwischen Woody Guthrie und einer neuen Generation von Songwritern, die ihn bislang nur im Vorübergehen zu fassen bekommen hatten, über die Schulter von Bob Dylan hinweg oder weit im Hintergrund eines Bruce-Springsteen-Songs.“

Mit anderen Worten: „Mermaid Avenue“ – so heißt das Werk nach der poetisch schäbigen Straße auf Coney Island, in der Guthrie zuletzt lebte – folgt dem Muster der virtuellen Vereinigung mit einem Toten, wie sie Paul, George und Ringo bereits mit John Lennon praktizierten, betreibt diese aber nicht mit digitalen, sondern sozusagen analogen Mitteln: denen der kongenialen Nachvertonung. Bragg und Wilco halten die Arrangements rustikal, singen die Stücke, wie Guthrie sie in den Vierzigern komponiert haben könnte, hätte er über die Fähigkeit verfügt, Noten zu schreiben: Lieder über Walt Whitmans Nichte, Kinderlieder, Erinnerungen eines kranken alten Mannes an seine erste Liebe und die Liebe, die er gern mit Ingrid Bergman auf dem Kraterrand des Stromboli gemacht hätte.

Das alles ist rührend, aber antiquiert. „Mermaid Avenue“ ist ein Versuch, den Archetyp des verwegenen Landstreichers mit Politambitionen und gutem Herzen auf den Schultern eines Klassikers neu zu gründen, kommt aber – trotz Autorisierung durch die leibliche Tochter – um den postmodernen Aspekt der Archivplünderung auch nicht herum. Das Zeitalter der Tramps läßt sich eben bloß zitieren, nicht wiederholen.

Mit solchen Tücken der Historisierung hält sich „Where Have All The Flowers Gone – The Songs Of Pete Seeger“ gar nicht erst auf. Der Sampler folgt dem amerikanischen Modell der „Celebration“, wie Initiator Jim Musselman im Geleitwort schreibt, das heißt: Alles geht, alles ist erlaubt, solange es dem Motiv des Feierns und Hochlebenlassens Seegerscher Songs dient. Fast 40 Liedkünstler füllen die Vorlagen, großenteils Hymnen der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, mit spezifischer Eigenwärme. Der Hollywood-Schauspieler Tim Robbins stellt „All My Children Of The Sun“ in die Tradition Eislerscher Agit-Chantys. Bruce Springsteen läßt „We Shall Overcome“ depressiv klingen wie seinen Abgesang auf die Straßen von Philadelphia. Billy Bragg, auch hier dabei, ließ sich nicht lang bitten, eine Version von „My Fathers Mansions“ beizusteuern. Sogar Reinhard Mey hat auf unnennbaren Wegen Eingang in den Kanon der Zelebratoren gefunden.

Höhepunkt aber ist zweifelsfrei das titelgebende „Where Have All The Flowers Gone“, hier in Kooperation zwischen dem nordirischen Sänger Tommy Sand und dem bosnischen Cellisten Vedran Smailović recyclet. Daß die beiden sich anläßlich der 1.000tägigen Belagerung von Sarajevo erstmals zu einem Konzert unter der New Yorker Freiheitsstatue begegneten, gibt ihnen das Recht, grundiert von Geigen, Trompeten und den zarten Stimmen des Kinderchors von Dublin ein grandioses Statement gegen den Haß in der Welt in die Welt hinauszukitschen. Und, wo sind sie nun, die Blumen? Befreit von aller politischen Ursachenforschung schwebt das Stück als in jede Richtung dramatisierbare Rätselfrage durch den Raum kollektiver Zitierbarkeit. Dr. Motte könnte es als Motto für die nächste Love Parade entdecken.

Immerhin: Der heute 75jährige Pete Seeger hat diesen Tribut nicht nur mit seinem persönlichen Segen versehen, die historisch-kritischen Beipackzettel weisen ihn auch als Pionier des Samplings ohne Samplingtechnik aus. Fast alles, was er in seinem langen Leben an Songs zusammengetragen hat, basiert auf Ab- und Umschriften historischer Vorlagen. Die älteste ist 3.000 Jahre alt und geht auf Ecclesiastes zurück: „To everything (turn, turn, turn), there is a season (turn, turn, turn)“. Ein postmodernes Manifest avant la lettre. Kein Grund also für die Nachgeborenen, die Sache nicht noch etwas weiterzudrehen. Für den Rest sorgen Gott, Amerika und eine gute Promotion.

Noch einmal anders stellt sich die Ausgangslage für die Hommage an Hank Williams, den heiligen Trinker der Country-Musik dar – als Hinterwäldler aus Alabama auch so eine Art Woody. Seine großenteils in den Vierzigern eingespielte Musik war schon immer bereinigt von bürgerlich-weltverbesserischen Sekundäransprüchen: Wer auf der Rückbank seines Cadillac in aller Stille krepiert, bei dem führt die Spur nicht zu Brecht, sondern zu Kafka. Williams ist das existentielle Modell eines Songmodernen, dessen Stücke, wo es vordergründig um Flußarme und Kornfischkuchen zu gehen scheint, von Angst und Verzweiflung handeln. Das macht ihn so Rock'n'Roll-kompatibel. Und so zitierbar.

„I'll Never Get Out Of This World Alive“ – unter diesem Obertitel mühen sich die meisten der 23 Neuinterpreten schluchzend, rockend, zupfend um den authentischen Spirit. Es sind wunderbare Hank-Variationen von Al Green, Isaac Hayes und Killdozer dabei. Doch über die Distanz einer Dreiviertelstunde entsteht auch ein Eindruck davon, wie multidimensional knetbar so ein Songkorpus tatsächlich ist. Williams-Songs sind mühelos in den Aggregatzustand Soul, Reggae oder Blasmusik überführbar. Drei Versionen von „I Can't Help It (If I'm Still In Love With You)“, drei von „I'm So Lonesome I Could Cry“ und je zwei von „Ramblin Man“ bzw. „You Win Again“ nagen zusätzlich am Prinzip der Einmaligkeit. Der Warhol-Effekt: Mit sich selbst hintereinandergeschaltet verliert die Ikone ihre Tiefe, wird Oberfläche, Serie, Text.

Deconstructing Woody, deconstructing Hank: Viel bleibt nicht von den Vätern, wenn sie erst einmal in die Maschinerie universalen Archivrecyclings eingespeist sind. Und das hat sogar einen Zug höherer Gerechtigkeit. Auch die Archetypen des Genres – Männer mit Hüten und Gitarren, die die Weiten des Vorkriegsamerika durchstreiften – waren auf ihre Art Plünderer. Sie verleibten sich Gehörtes ein. Wer sich heute ihr Gesamtwerk auf den heimischen CD- Player herunterlädt, der kriegt keine Originale, sondern immer bloß Musik, die sich auf Musik bezieht: Variationen über einem Kanon von Floskeln und Zitaten, deren Ursprung sich im unkodierten Dunkel mündlicher Überlieferung verliert. Und so sehen wir betroffen den Vorhang zu und alle Archive offen.

Billy Bragg & Wilco: „Mermaid Avenue“ (WEA)

Diverse: „Where Have All The Flowers Gone. The Songs Of Pete Seeger“ (Wundertüte Musik/ BMG)

Diverse: „I'll Never Get Out Of This World Alive - Hank Williams Revisited“ (Trikont)