„Das ist das Ende jedweder Kontrolle“

■ Tausende Menschen sind in Algerien verschwunden. Mütter und Ehefrauen irren von Behörde zu Behörde und suchen nach ihren Angehörigen

Madrid (taz) – „08988 190 16“ – diese Nummer wird Ammari Aseddine nie vergessen. Sie gehört zu dem graumetallic-farbenen Renault 12, in dem ihr Sohn entführt wurde. Vier bewaffnete Männer in Zivil hatten den 32jährigen zur Mittagszeit abgepaßt, als er sein Lebensmittelgeschäft in der Banlieue von Algier schloß. „Alles ging so schnell, daß keiner der herbeigeeilten Nachbarn etwas machen konnte“, erzählt die Mutter.

Das war am 12. August 1994. Seither sucht die Frau ihren Sohn vergebens. Die 63jährige ist sich sicher, daß die Entführer vom militärischen Sicherheitsdienst waren. Ammari Aseddine ist die älteste aus einer Gruppe von sechs Frauen mit ähnlichem Schicksal.

Sie haben sich auf ihren verzweifelten Gängen durch Justizbehörden und Kommissariate kennengelernt. Bei einer drangen am 10. Oktober 1996 um 3.30 Uhr 15 vermummte Polizisten in die Wohnung ein und verschleppten ihren Ehemann. Die nächste sucht seit einer ähnlichen Razzia ihren Schwiegersohn. Zwei weitere vermissen seit 1995 ihre Söhne.

„Wir waren überall. Selbst an Präsident Liamine Zéroual haben wir geschrieben“, sagt Ammari, den Tränen nahe. „Unpolitisch und auch nicht religiös“ seien ihre verschwundenen Angehörigen gewesen, bestätigen sie einhellig. Dennoch sind sie sicher, daß belastende Aussagen gegen sie vorlagen. Bei den großangelegten Razzien beschuldigen immer wieder Verhaftete Nachbarn, um sich selbst den Peinigern zu entziehen. „Die behandeln unsere Kinder wie räudige Hunde“, sagt Ammari, bevor ihre Stimme in Tränen erstickt.

Mustafa Bouchachi ist einer der Anwälte, die sich um die Angehörigen der Verschwundenen kümmern. „Allein in Algier sind uns 700 Verschwundene gemeldet worden, im ganzen Land dürften es über 2.000 sein“, sagt er. Die US- amerikanische Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch bestätigt diese Zahl. Selbst der Vorsitzende des staatlichen algerischen Menschenrechtsobservatoriums (ONDH), Kamil Resag- Bara, räumt Fälle von Verschwundenen ein. Die Gründe dafür sucht er allerdings nicht im Handeln der Polizei und Armee. Ein Teil der Verschwundenen sei illegal nach Europa ausgewandert, andere seien in den islamistischen Untergrund abgetaucht.

Für Bouchachi versucht Resag- Bara damit zu vertuschen, was bei Polizei und Armee System hat: „Das Terrain wurde seit dem Putsch 1992 mit dem Antiterrorgesetz und die Ausführungsbestimmungen für die Justizbehörden vorbereitet.“ Jede x-beliebige Einheit, ob Armee, Polizei oder Gendarmerie, und jedes x-beliebige Kommissariat dürfen überall im Land operieren. „Das ist das Ende jedweder Kontrolle“, beschreibt der Anwalt die Folgen. Verhaftete könnten damit in jedem beliebigen Kommissariat, Gefängnis oder Büro landen, ohne daß es ihre Angehörigen erfahren. Je länger die Verschwundenen nicht auftauchen, um so geringer sei die Hoffnung sie lebend wiederzufinden.

Ammari Asaddine glaubt fest daran, daß ihr Sohn noch lebt. „Ich erhielt vor zwei Wochen einen Anruf, von einem Unbekannten, der mich zu einem Treffen einbestellte.“ Ein gutgekleideter junger Herr habe ihr erklärt: „Ihr Sohn lebt noch. Er ist in der Militärkaserne von Beni Messous.“ Und dann kamen die Bedingungen, um ihn aus seiner Haft freizubekommen: „Die haben Angst vor Ihnen, Madame. Wenn Sie aufhören, soviel Wirbel zu machen, bekommen Sie ihn zurück.“ „Ich halte erst den Mund, wenn ich meinen Sohn wiederhabe“, gab Ammari als Antwort. Reiner Wandler