Exzentrik auch am DJ-Pult

Vom Material zur Form und wieder zurück: Mit „Polyfoto“ zeigt der documenta-Teilnehmer Carsten Nicolai in Leipzig, wie weit sich die Zeichenwelt engführen läßt  ■ Von Martin Pesch

Die Kunst von Carsten Nicolai gehört ins Erdgeschoß, so nah wie möglich an den Mittelpunkt, der alles zusammenhält. Trotz aller Versuche, das Auseinanderfliehende und Fragmentarische des Lebens zu thematisieren, steckt in den Arbeiten die Sehnsucht nach dem existentiellen Zusammenhang, in dem der Mensch eins ist mit der Welt.

In der gerade eröffneten Leipziger Galerie für Zeitgenössische Kunst ist Nicolais „Polyfoto“ betitelte Ausstellung als Rundgang konzipiert. Schon an der Kasse hört man über Lautsprecher Klänge einer Installation in einem von dort noch nicht einsehbaren Raum. Und um die Zusammengehörigkeit der hier zum ersten Mal gemeinsam gezeigten, teils schon einzeln präsentierten Arbeiten noch stärker zu betonen, liegt ein flaches, aus schwarzem Hartgummi geformtes Verbindungsstück auf dem Boden. Es durchdringt zwei Glaswände und überbrückt einen schmalen Freiluftkorridor und stellt so eine Art Kurzschluß zwischen dem ersten und letzten Raum her. Alles eins.

Carsten Nicolai wurde 1965 in der damaligen Karl-Marx-Stadt geboren, ist gelernter Landschaftsgärtner und gehörte in den achtziger Jahren u.a. zusammen mit seinem Bruder Olaf zu den „Wunderkindern“ (Klaus Werner) aus dem Umfeld der Leipziger Galerie Eigen + Art. Nach der Wende wurden sie vom West-Kunstmarkt willkommen geheißen; in ihnen sah man Vertreter einer Kunst, denen die Dissidenz nicht deutlich anzusehen war, sondern in einem größeren, allgemein-menschlichen Themenkreis auflösten.

Als Ex-DDR-Künstler aus der dort stets bedrohten Subkultur standen sie dennoch für „Politik“. Und diese diffuse Mischung erleichterte bei aller Hermetik der künstlerischen Arbeit deren Vermittlung. Bekannt wurde Carsten Nicolai insbesondere durch seinen Beitrag zur letztjährigen documenta, bei der er ein organisches, einem Logo ähnliches Signet an unterschiedlichsten Orten im Kasseler Stadtraum anbrachte. Ergänzend dazu machte er im öffentlichen Raum des Bahnhofs oder akustisch über das Lokalradio selbstproduzierte Sounds hörbar. Das Signet wie die Loops fungierten als Zeichen einer anderen Ordnung, als Störung der Normalität.

In Leipzig werden jetzt die noch in Kassel nach außen wirkenden Werkbestandteile als Elemente einer Art von System deutlich. Daß Nicolai zwanglos zwischen großformatiger Malerei, zarten Zeichnungen, akustischen Arbeiten und Rauminstallationen pendelt, macht die Sache keineswegs einfacher. Immer wieder geht es um die Formbarkeit formloser Materie und den Widerstand dieser Materie, definierte Form zu werden. Das Wasser in den glühbirnenartigen Glasbehältnissen ist das deutlichste Bild dafür. Das Motiv zeigt sich aber auch im knackenden Funkensound, der von Eisenkugeln und einem neben ihnen angebrachten elektrischen Kontakt verursacht wird. Das unregelmäßige Knistern, durch das die auf einem Metalltisch liegenden Kugeln „Sinn“ bekommen, wird erst durch das Nähertreten des Betrachters ausgelöst.

In einen weiteren Tisch sind vier Plattenspieler eingelassen, auf denen sich vier Platten drehen – es ist Nicolais kürzlich als Noto auf seinem eigenen Label Noton veröffentlichte „endless loop edition“. In insgesamt 48 Rillen sind Loops in das transparente Vinyl gepreßt, die über Kopfhörer und Außenlautsprecher zu hören sind. Sie können in ihrer Geschwindigkeit und durch die exzentrische Anordnung des Mittellochs manipuliert werden, so daß aus dem in sich geschlossenen einzelnen akustischen Element ein unendlich variierbarer Mix wird. Was seine akustischen Arbeiten betrifft, möchte Nicolai nach eigener Aussage „zum Kern des Tons“ gelangen. Seine Arbeit insgesamt lebt von der Spannung, daß dieser Kern, daß dieser Mittelpunkt, an dem alles erklärbar zu werden scheint, außerhalb der Greifbarkeit steht. Nicolais „Polyfoto“ zeigt diesen Gedanken in unterschiedlichen, variablen Einstellungen.

Bis 23. 8. Galerie für Zeitgenössische Kunst, Leipzig. Zeitgleich wird die Ausstellung „Chain of Events“ von Matthew McCaslin gezeigt.