Die Fahrt der Wolle über die Pässe

Seit Jahrhunderten treiben Südtiroler Bergbauern ihre Schafe auf Sommerweiden in Nordtirol. Im Herbst geht's zurück. Über Gletscher, Schnee und Eisbäche. Eine archaische Reise, mitten in Europa, und doch in einer anderen Welt  ■ Von Stefan Schomann

Etwas Sanftes und Gewaltiges wird kommen. Der Pichler Herbert und der Horrer Elmar sind vorausgeeilt und warten am Gletscher. Die Nacht geht zur Neige, schwarze Wolken jagen über den Kamm, für Sekunden blitzt die Mondsichel hindurch. Nebel kriecht vom Niederjoch herunter. Es ist dämmrig, windig, klamm.

Erst fern und mit dem Wind verwoben, dann rasch anschwellend, rollt eine Klanglawine aus dem Nebel auf sie zu. Ein Gamelan-Orchester aus Glocken und Glöckchen, getragen vom blökenden Chor der zweitausend Schafe, vom Donnern ihrer Hufe auf dem Kalkstein, durchstoßen vom überschnappenden Bellen der Hunde und den Rufen der Menschen. Die wilde Jagd naht mit der Gewalt eines Heeres, das sich nach Monaten der Ruhe in Bewegung setzt.

Der Elmar, der Herbert und das Dutzend weiterer Treiber, sie gehen nicht, sie fahren mit den Schafen übers Joch. Das heißt man so von alters her, und wer einmal mitten in einer Herde gelaufen ist, vom Strom der Tiere umspült und getragen, der wird auch mit einem fliegenden Teppich nicht tauschen wollen. Seit Jahrhunderten ziehen sie hier über den Alpenhauptkamm, die Grenze zwischen Nord- und Südtirol. Im Juni hinüber, im September herüber, dreitausend Meter hoch. Der unscheinbare Pfad ist die Spur vieler Generationen. Er führt zurück bis in die Vorzeit, als der Ötzi hier heraufstieg, der Gletschermann vom Similaun, von dem angenommen wird, daß auch er ein Hirte war. Elmars Ahne mithin, der sich jedoch diplomatisch zurückhält: „I woar ja ned dabei.“

Die Herde drängt weiter. Herbert überblickt ihre imponierende, wogende Masse. „Guat schaun's aus.“ Höchste Zeit für den Weg ins Winterquartier: Die Almen sind abgegrast, schon hat es geschneit. Den zweitägigen Gewaltmarsch über Gletscher und Steilhänge begleiten mal drei, mal zwanzig Touristen. Neulich war gar „ein echter Amerikaner“ mit von der Partie. Anders als beim Almabtrieb unten im Ötztal, wo sie vor lauter Fremdenverkehr ihre Not haben, ein Dutzend Kühe zusammenzubringen, die dann für eine hundertmal so große Touristenherde um zwei Ecken getrieben werden, bleibt man hier oben fast unter sich.

Da die Tiere verschiedenen Besitzern aus der „Interessentschaft“ von 21 Schafhaltern gehören, tragen sie große, ausgewaschene Farbflecken auf dem Rücken, von postgelb bis grün-metallic. Die ersten Urkunden, die diesen Familien Weiderechte im Norden zusichern, stammen von 1415. Seither haben sie, durch alle historischen Umwälzungen hindurch, Jahr um Jahr davon Gebrauch gemacht. „Denn ein Recht ist ein Recht“, erklärt Elmar, „das läßt man nicht verfallen.“

Was da klettert, plärrt und springt, sind überwiegend Muttertiere, dazu 40 Hammel, 500 Frühlings- und 50 Sommerlämmer. Manche sind noch keine Woche alt und staksen auf Beinen, dünn wie Pfeifenputzer, hinter ihrer Mama her. Dennoch werden sie diese Tour bewältigen, auf der schon mancher Wanderer kehrtmachen mußte. Nur um die Zwillinge sorgt man sich, die gestern geboren wurden und die Nacht in der Hütte verbrachten. Der Gorfer Josef und die Götsch Andrea tragen sie in ihren Anoraks.

Neuschnee und Nebel, Schafe und Wolken verwirbeln zu einer großen Turbulenz. Unermüdlich preschen die Hunde an den Flanken der Herde vor und zurück. Auf den steilen Geröllhängen darf weder Stau noch Panik entstehen. Begleitet vom „löck-löck“ und „hoi- hoi“ der Treiber schlängelt sich der Zug über den Firn, legt sich die Perlenkette um den Nacken des Similaun.

An der Hütte bilden die Felsen eine Gasse, durch die die Schafe über den Paß rasen. Zwei „Finanzer“ sind in hoheitlicher Funktion heraufgestiegen. Ein paar Stempel, ein strenger Blick – das ist alles. Als vor Jahren der Wechselkurs günstig stand, hat mancher Vinschgauer in Österreich ein paar Tiere dazugekauft, worauf die Zöllner versuchten, die rasende Herde zu zählen. Aussichtslos.

Der Weg über den Gletscher selbst ist nicht gefährlich, erst durch das cholerische Wetter wird er riskant. 1979 erfroren zweihundert Schafe nach einem Wettersturz. Verzweifelt trieb man möglichst viele in die Hütte. Die Hammel sind besonders gefährdet – ihnen friert die Leitung ab.

Die Zwillinge werden schwächer. Die Hütte verfügt über eine Materialseilbahn, damit könnte man sie ins Tal schicken. Aber werden sie auf der windigen Fahrt nicht erfrieren, und wer soll sich unten um sie kümmern? So werden sie weiter neben ihrer Mutter hergetragen. Kaum hat die Herde den Scheitel der Alpen überschritten, sind die Treiber die Getriebenen. Die Phalanx macht nicht eher halt, als bis sie tausend Höhenmeter tiefer saftige italienische Grasmatten erreicht. Im Regen wird dann Rast gehalten, mit Speck, Vinschgauer und einem Flascherl Wein. Stille Grübler sind in der Schar und stramme Bauernlackel, knopfäugige Hoferben, sportliche Gastwirtstöchter und winzernasige Hallodris. Die meisten sind Nebenerwerbsbauern oder Hobbyzüchter. So auch Elmar, der im Bauhof der Gemeinde Laas arbeitet, und Herbert, Schichtleiter in den Marmorwerken.

Als letzter langt der Schäfer an. Der Gurschler Fortunat. Er hat den ganzen Sommer mit der Herde verbracht. Geschmeidig steigt er über Stock und Stein, ohne jede Kraftmeierei. Ein schöner, schlanker junger Mann mit Bart, eine sanfte Autorität. Er ist der Feldherr dieses Zuges, die Treiber die Offiziere, die Hunde ihre Adjutanten. Sein erstes Jahr als Profi – und schon ist etwas von der Aura des Hirtenstandes auf ihn übergegangen: einer der ältesten Berufe der Menschheit, geadelt auch durch große Religionen. Er sieht die Zwillinge sterben. Sie klappen einfach um, zwischen den Beinen ihrer Mutter. Jetzt läßt die Alte niemanden mehr heran. Sie, die sich sonst brav trollt, wenn ein Hund sie nur anschaut, treibt jetzt die ganze Meute in die Flucht. Am Ende jagt der Gorfer Josef sie über halsbrecherische Felsen hinab, wo sie in der aufbrechenden Herde verschwindet. Die Jungen verscharrt er.

Eins kommt, eins geht. Der Sinn der Herde sind die Lämmer, an ihnen läßt sich verdienen. Sie treten diesen Marsch nur an, um vom Metzger empfangen zu werden. Auch ein Deckhammel bringt Geld. Die Muttertiere, EG-gesponsert, bleiben unbehelligt, solange sie Nachkommen produzieren, dann wandern sie in die Wurst. Die Wolle dagegen trägt fast nichts ein, wird manchmal noch als Dämmaterial für ein Dach genommen.

Mit Tempo fahren sie ins Schnalstal. Karibisch türkis leuchtet tief unten der Stausee von Vernagt. Das alte Dorf liegt auf dem Grund begraben, ein alpines Atlantis. Im neuen Dorf werden drei Viertel der Herde verteilt. Aus großen Pferchen greift sich jeder Bauer seine Farben. Es regnet ohne Unterlaß, alle wollen ihre Schäfchen ins Trockene bringen. Der Fortunat kriegt seinen Lohn, der Metzger die Lämmer.

Abends Radau im Gasthaus. Ein nimmermüder Ziehharmonikaspieler dreht sich wie ein Irrwisch – der Landesobmann der Schafzüchter. Schau, da ist die rüstige Elvira, die im Glitzerpullover auf nähere Bekanntschaft irgendeines Burschen hofft, während ihr Alter im Nebenstüberl beim Watten versumpft. Bier, Cynar und Chianti fließen, und die saufen am meisten, die nicht dabei waren. Gläser werden zerdeppert und Stühle umgeworfen. Am „Stammtisch für Jäger, Fischer und andere Lügner“ wird der Gurschler Fortunat von allen Seiten gefragt, was denn das Schönste an der Schäferei gewesen sei. „De Ruah!“ schwärmt er, „de Ruah!“

Wohlwohl! Die Bäuerin vom Obergamphof bringt ihre Gäste am Morgen vor die Tür. Es ist stockdunkel, aber höchste Zeit. Elmar und Herbert steht ein mindestens zwölfstündiger Marsch bevor, noch einmal hoch auf 2.800 Meter und dann ewig lang hinab nach Laas. Die restlichen vierhundert Tiere sollen unterwegs mit einer zweiten Herde zusammentreffen, die gestern über das Hochjoch stieg.

Die erste Stunde auf der kurvigen Straße ist die gefährlichste. Frühaufsteher brausen heran, sehen die Herde erst im letzten Augenblick. Dann geht es stracks aufs Taschljöchl. Miss Südtirol ist auch dabei: 1988 wurde sie, bernsteinäugig, zum schönsten Schaf im ganzen Land gekürt. Seither heißt sie Frau Müller. Die Tiere finden den Paß allein, die Männer aber müssen weite Bögen schlagen, um säumigen Schafen Beine zu machen. Nur vor den Hunden haben die Respekt, weil sie wissen, daß die Menschen sie nicht beißen.

Es blitzt und donnert am Grat – „für die gestrigen Sünden“. Nebel wallen im Tal, Sonnen- und Hagelschauer wechseln ab. Enzianblauer Gewitterhimmel. Dem Leithammel wurden Blumen aus Seidenpapier in die Wolle gesteckt, aber für die Fahrt ist er unerheblich. Die Mütter leiten. Schafe sind Traumtiere mit solidem Matriarchat. Am Nachbarhang klettert die zweite Herde herauf, sie vereinigen sich am Grat. Ein uraltes Bild, wie man es im Karakorum oder in den Kordilleren erwartet – nicht aber drei Autostunden von München. Verblüfft stellen die nunmehr sechs Hirten fest, daß sie allesamt Cousins sind, „der Jörg sogar doppelt“. Munter steigen sie ab, die Herde rinnt über den Hang. Alle geben eine Woche Urlaub dran, um mit den Schafen zu sein.

Am späten Nachmittag kommt der Vinschgau in Sicht. Das Tal biegt sich unter der Last der Äpfel. Es geht auf die Zielgerade: fünf Kilometer abschüssiger Asphalt. Da heißt es laufen, was die Bergstiefel hergeben: Die Tiere dürfen nicht zum Stehen kommen, sonst plündern sie die Obstplantagen und die lecker garnierten Vorgärten. Immer schneller wird die Jagd, stolpern, stürzen, fahren sie, hoi!, hoi- hoi!, im letzten Licht des Tages die Dorfstraße hinab, endlich zu Haus, ums Kircherl herum, am Gasthof Sonne und an der Bäckerei Hofer vorbei, wo überall Leute stehen und lächeln. Sie sehen zwar, daß diese erschöpften Kerle glücklich sind. Doch verstehen — verstehen werden sie es nicht. Denn sie woarn ja ned dabei.