Leben ohne Lohnarbeit

■ Eine Spülmaschine hält bei der Landkommune "Longo Mai" ein halbes Jahr - das Kollektiv selbst besteht schon seit 25 Jahren. Ihr Projekt "Kultur im Kuhstall" bietet Lesungen und Kabarett

In der großen Küche dampfen die Kochtöpfe. Es riecht nach Hasenbraten. Fünf Kilo Nudeln reichen nie. Der blonde Jost Hinnen schüttelt trotz der riesigen Nudelpackung skeptisch den Kopf. Nach 25 Jahren Kommuneleben weiß man, wieviel man für hungrige Kommunardenbäuche kochen muß.

Jost Hinnen ist von Anfang an dabei. Revolutionäre Ideen der 68er Bewegung im Kopf, begann er 1972 mit einer Handvoll Lehrlingen und Studenten drei verfallene Höfe in der französischen Haute Provence aufzubauen. Mit ihrer Kooperative „Longo Mai“ wollten die jungen Leute aus Deutschland, Österreich, Frankreich und der Schweiz ihren Traum von einem selbstbestimmten Leben verwirklichen. „Longo Mai“ ist ein provenzalischer Gruß und heißt „Lange möge es dauern“. Daß Jost Hinnen jetzt in Hof Uhlenkrug Hasenbraten mit Soße brutzelt, zeigt, wie standhaft so ein Kollektiv sein kann. Immerhin ist Longo Mai heute ein Verbund von zehn selbstverwalteten Kooperativen in ganz Europa – das größte Kommuneprojekt seiner Art.

Den Hof in Mecklenburg, etwa zweieinhalb Autostunden von Berlin entfernt, kaufte die Kommune vor drei Jahren. Mit dabei waren etliche Neueinsteiger aus Ostdeutschland, die nach der Wende auf der Suche nach einer Alternative zum Leben in der Marktwirtschaft waren. „Die Aussparung des Sozialen in der neuen BRD ging mir auf die Nerven“, führt die ehemalige Journalistin Herma Ebinger aus Leipzig als ihre Motivation für das Kommuneleben an. Die Ideale der Longo- Mai-Aussteiger konnten die resolute grauhaarige Frau mehr begeistern. Die Perspektive, gemeinsam zu leben, zu arbeiten und sich politisch zu engagieren, zog die meisten Gruppenmitglieder in die Gemeinschaft. Gezielt siedelten sie sich in einer wirtschaftsschwachen ländlichen Region an, die andere mangels Arbeitsplätzen verließen.

Damit verbunden ist auch die Absage an Lohnarbeit. Noch immer gibt es in Longo Mai eine gemeinsame Kasse. Ein Gehalt zahlen sich die Kommunarden nicht. Wer Geld braucht, nimmt es sich aus der Gemeinschaftskasse. Alle leben nur von den Erträgen der Kooperative, ihre früheren Berufe haben sie aufgegeben. Die meisten wollen in der Kommune alt werden.

Auf dem 50 Hektar großen Gelände von Uhlenkrug gibt es Schafe, Rinder, Schweine und Gemüsebeete. Im großen Backsteinhaus wohnen die elf Kinder, die meisten der zwölf Erwachsenen schlafen in buntbemalten Bauwagen ringsum. Hier befinden sich auch die wenigen privaten Gegenstände der einzelnen Bewohner.

Eine Spülmaschine hält in der Kommune im Schnitt ein halbes Jahr. Das Kollektiv hat indes ein Vierteljahrhundert wacker überstanden. Viele sind schon zwischen zehn und zwanzig Jahre dabei. Der Haussegen hängt darum nicht mehr gleich schief, wenn einer mal mit den Einnahmen vom Markt teuer essen geht. Konflikte, etwa um die Kindererziehung, gibt es trotzdem oft. Für die Kindererziehung sind alle zuständig, und da gehen die Ansichten zuweilen auseinander. Daß sich in der langen Zeit gewisse Hierarchien herausbilden, lasse sich nicht vermeiden, erzählt Seemann, ein Mann mit wuscheligen Haaren. Ihn nennen alle nur „Seemann“, weil er vor seiner Kommunezeit zur See gefahren ist. Aber man suche eher nach Gemeinsamkeiten, statt sich mit ständig aufbrechenden Rivalitäten rumzuplagen. Die permanente Auseinandersetzung mit der Gruppe treibt trotzdem den ein oder anderen zum Auszug aus der Kommune, obwohl die Fluktuation insgesamt gering sei. Bei manchen stimme eben einfach „die Chemie nicht“.

Die insgesamt etwa 200 Longo- Mai-Kommunarden betreiben Landwirtschaft, mehrere Hotels, eine Wollspinnerei, Weinanbau und eine freie Radiostation in Südfrankreich. Zudem unterstützen sie eine Aufnahmestation für sandinistische Flüchtlinge in Costa Rica. Diese verschiedenen Projekte sind dabei eher spontanen Initiativen und Ideen von Neueinsteigern geschuldet als gezieltes Programm von Longo Mai.

Weil die Bewohner immer mal zwischen ihren diversen europäischen Filialen umhertingeln, läuft auch das Abendessen vor dem Backsteinhaus auf Hof Uhlenkrug zweisprachig. Seemann reicht mit gebrochenem Französisch die Zuckererbsen an den Besuch aus Frankreich weiter, um dann auf deutsch mit seiner Tischnachbarin weiterzureden. Das meiste Essen auf den langen Biertischen stammt aus der Kooperative selbst. Nur die Hasen für den Braten hat man beim Nachbarn gegen Kartoffeln eingetauscht. Einmal pro Woche verkaufen die Bewohner von Longo Mai Knoblauchwurst, Wollpullover und Gemüsekonserven auf dem Biomarkt in Greifswald. Damit verdient die Landkommune jedoch nicht genug. Ohne Spenden wäre sie längst pleite.

Die Kommunarden verstehen sich nicht nur als Ökobauernhof, sondern vor allem als politische Gemeinschaft. Sie versuchen mit den Mecklenburgern ebenso über das Atommüllager Lubmin bei Greifswald zu diskutieren wie über gentechnische Freilandversuche in der Landwirtschaft. Nachbarn, die den Neuankömmlingen anfangs skeptisch begegneten, sind inzwischen aufgeschlossen gegenüber der Kommune.

Seit Mai veranstaltet Hof Uhlenkrug im alten Kuhstall regelmäßig Theater, Kabarett oder Lesungen. Auch das ist für Herma Ebinger politische Arbeit. Trotzdem wehrt sich der 43jährige Jürgen Schröder gegen Klischeebilder von romantischen Revoluzzern. „Wir sind nicht das einzige realisierte Projekt der 68er Bewegung, das überlebt hat.“ Der Mann mit dem wettergegerbten Gesicht hat sich schon als Schüler der Longo-Mai- Gruppe um Jost Hinnen angeschlossen, weil er „die Nase voll hatte von Leuten, die nur theoretisieren“. Inzwischen habe er keine Lust mehr, monatelang mit den Schafherden durch die Lande zu ziehen. Er versorgt lieber die Kühe auf dem Hof und überläßt das Vagabundieren den Jüngeren.

Viele sind damals aus Opposition zum bürgerlichen Leben ihrer Eltern in die Kommune gezogen. Den Kindern von Longo Mai fehlt dagegen eine Reibungsfläche. Wenn die Eltern im Bauwagen leben, freies Radio machen und Kultur im Kuhstall veranstalten, wogegen lehnt man sich als Jugendlicher dann auf? „Viele der erwachsenen Kinder gehen aus Longo Mai weg und gründen ihr eigenes Projekt“, erzählt Seemann. Teure Turnschuh-Statussymbole sind angesichts der knappen Gemeinschaftskasse für Teenager nicht drin. Aber wer von den Kids mit den schicken Klamotten der Klassenkameraden mithalten wolle, wünsche sich eben ein adidas-Shirt von der Oma, lacht Seemann.

Heute wird auch Herma Ebinger ihre schicken Ohrringe anlegen. Denn im mit Blumen geschmückten Kuhstall gibt es am Abend eine Dichterlesung. Auch der Dorfbürgermeister will kommen. Kirsten Küppers

Am 1. August um 20 Uhr liest Kerstin Hensel im Rahmen von „Kultur im Kuhstall“ Gedichte und Erzählungen. Eintrittspreis: 10 Mark oder ein Stuhl. Mittellose können Kartoffeln lesen, Unkraut jäten, Geschichten erzählen. Übernachtung: im Zelt, Hotelliste auf Anfrage. Anreise mit der Bahn: Demmin, Malchin oder Teterow, dann Fahrrad oder Auto nach Absprache. Informationen: Longo Mai, Hof Uhlenkrug, Dorfstraße 68, 17159 Stubbendorf, Tel. (039959) 23881.