■ Die Grünen im Spagat: Wie kann die Partei gleichzeitig ökologischen Verzicht fordern und die hedonistische Mittelschicht repräsentieren?
: Im Abseits

Die politischen Kommentare sind zur Zeit voll mit vergleichenden Metaphern aus der Sprache des Fußballs. Tatsächlich liegt es nahe, den Wahlkampf mit Mannschaftsaufstellung, Spielzügen und taktischen Varianten zu vergleichen. Für die in den letzten Jahren erfolgsverwöhnten Grünen fällt diese Analogie zur Zeit ziemlich verheerend aus. Der Blick auf Aufstellung und Taktik offenbart grundsätzliche Schwächen der „grünen Tulpe“. Das Spiel mit nur einer Spitze kann auf Dauer einfach nicht gutgehen. Hinzu kommt, daß aus dem Mittelfeld ständig Steilpässe nach vorne gespielt werden, die niemanden erreichen und zur leichten Beute der gegnerischen Verteidigung werden. Die eigene Verteidigung dagegen bricht meistens schon bei den ersten Attacken der Gegner in sich zusammen und muß immer wieder neu aufgebaut werden. Angesichts dieser Spielanlage geraten die Grünen zur Zeit ein ums andere Mal ins Abseits. Wenn sie nicht aufpassen, droht sogar der Abstieg in die Landesliga.

Bleibt die Frage, wie die Grünen in so kurzer Zeit so radikal in der Wählergunst verlieren konnten. Erklärungsbedürftig ist vor allem, daß die Grünen nicht nur vom politischen Gegner vor sich hergetrieben werden, sondern auch in der Gesellschaft an Unterstützung für Forderungen verloren haben, die zuvor bis weit in die Mitte hinein Konsens zu sein schienen. Daß die Forderung nach Tempolimits auf so massive Gegenreaktionen stößt, hätte bis vor kurzem niemand für möglich gehalten.

Es handelt sich gewissermaßen um die Akkumulation eines Negativtrends: zuerst die unglückliche Benzinpreisdebatte, dann die Mallorca-Flüge, jetzt die flächendeckenden Tempolimits. Von den politischen Gegnern und einem Teil der Medien geschürt, verfestigt sich in der Öffentlichkeit das Bild von einer Partei, die ständig auf der Bremse steht und umfassend in die persönliche Lebensgestaltung – vor allem in den Mobilitätsdrang – der Menschen eingreifen will. Der psychologische Abwehrreflex dagegen erweist sich als stärker als jede Form wissenschaftlich untermauerter Argumentation.

Es hilft den Grünen überhaupt nichts, daß Sachverständigenräte, Umweltbundesamt, Naturschutzverbände und Ökoinstitute ihnen recht geben. Während die anderen Parteien über die Grünen wegen ihrer ökologischen Forderungen herfallen, fordert zum Beispiel die interfraktionell besetzte Enquetekommission des Bundestages „Schutz des Menschen und der Umwelt“ eine zukunftsverträgliche Entwicklung, die als Querschnittsaufgabe von allen Ministerien verfolgt werden müsse. Ökologische Aufgaben müßten den gleichen Rang wie wirtschaftliche und soziale Aspekte haben.

Keine Partei – außer den Grünen – ist aber bereit, jenseits solcher Deklamationen einen „Zumutungswahlkampf“ (Wolfgang Schäuble) zu führen, in dem ökologische Zukunftsfähigkeit offensiv eingefordert wird. Schröder verspricht den Wechsel, der niemandem weh tun wird. Zukunftsfähigkeit erschöpft sich bei ihm in einem Modernitätsverständnis, das das für modern erklärt, was gerade aktuell ist. Die CDU hat Schäubles zukunftsorientiertes Wahlkampfkonzept schnell in der Schublade verschwinden lassen und führt einen Sicherheitswahlkampf, der auf personelle Kontinuität setzt und jedes programmatische Risiko vermeidet. Die Zumutungen der FDP an die WählerInnen zielen auf eine neoliberalen Ausrichtung der Gesellschaft. Nicht nur das Soziale, sondern auch das Ökologische soll zu einer Funktion der Ökonomie werden – frei nach dem Motto: Der Markt wird es schon richten.

Der ökologische Zumutungswahlkampf der Grünen dagegen trifft die Gesellschaft an einem ihrer empfindlichsten Punkte. Er stellt nicht nur die ausschließliche Orientierung auf ökonomische Nutzenmaximierung in Frage, sondern bewegt sich mit seiner Begrenzungsethik auch im Gegensatz zu individuellen Freiheitsansprüchen. Für die Grünen ist es eine bittere Erfahrung, daß dies offensichtlich auch auf einen Teil des postmodernen Milieus zutrifft, dessen Unterstützung sie sich bisher sicher sein konnten.

Dieser Liebesentzug konfrontiert die Partei mit einem Widerspruch, der sie von Anfang an begleitet hat. Auf der einen Seite verstand sich die Partei als Katalysator der von den neuen sozialen Bewegungen eingeforderten radikalen Selbstverwirklichungsansprüche des Individuums – auf der anderen Seite stand die ökologische (Selbst-)Beschränkung, die nicht nur an die politischen Institutionen, sondern auch an die Lebensgestaltung des einzelnen hohe moralische Ansprüche stellt. In diese Konstellation war der Konflikt zwischen den „postmoderner“ Selbstentfaltung, Entgrenzung und Überwindung traditioneller Moralkodexe und Bindungen und den – auch konservativ zu verstehenden – Werten der Selbstbeschränkung und des Verzichts einprogrammiert. Ökologische Politik, ernst genommen, erfordert eben nicht nur eine andere Politik, sondern verlangt von der Gesellschaft und vom einzelnen gemeinwohlorientierte Verhaltensweisen.

Da der Zumutungswahlkampf der Grünen an diese schlichte urgrüne Wahrheit erinnert, kommt er auch im hedonistischen Selbstverwirklichungsmilieu nicht an. Er gerät in den Verdacht, individuelle Freiheiten und ungebundenes (mobiles) gesellschaftliches Leben durch Moral und Verbotsschilder einschränken zu wollen. Vor allem die Jugendkultur, die noch vor 15 Jahren durchaus mit dem Prinzip „Selbstbeschränkung“ sympathisierte, hat sich mittlerweile radikal verändert. Von dieser Seite können die Grünen, wie das abbröckelnde Interesse bei JungwählerInnen zeigt, schon lange nicht mehr mit Unterstützung rechnen. Aber auch die neuen Mittelschichten als Träger des grünen Projekts verstricken sich allzuoft in Widersprüche zwischen mobiler Selbstverwirklichung und ökologischer Bescheidenheit. Nicht ganz zu Unrecht entsteht so der Eindruck, daß Anspruch und Wirklichkeit bei den Grünen auseinanderklaffen.

Der Zielkonflikt zwischen Selbstverwirklichung und Selbstbeschränkung ist kaum aufzulösen. Denn mit der Ausweitung von subjektiven Autonomieansprüchen ruft man gleichzeitig Geister auf den Plan, die man aus ökologischer Perspektive am liebsten wieder in die Flasche bannen möchte. Wahrlich keine einfachen Voraussetzungen für einen Zumutungswahlkampf. Wenn die Grünen mit dieser Strategie bei der Bundestagswahl ihr Waterloo erleben sollten, ist es nur ein schwacher Trost, daß auf längere Sicht keine Partei diesem Zielkonflikt wird ausweichen können. Lothar Probst