Brummtopf wird Weltbürger

In Rudolstadt feiern nicht nur Ost und West ein Folksfest – die ganze Welt fusioniert für ein paar Tage mit Thüringen. Moderne Festivalkultur zeigt sich von ihrer versöhnlichen Seite. Neben Klezmer und Fado: „Das erste Schlagzeugsolo, zu dem gejodelt wird“  ■ Von Christian Rath

„Im Maien, im Maien, hört man die Hahnen kraien“, singt die Drehleierspielerin Silke Reichmann. Erwidert wird die mittelalterliche Melodie von der Brasilianerin Catarine de Paula Borba – mit ihrem Berimbão-Musikbogen. Wenn das kein Crossover ist!

Die brasilianisch-altdeutsche Begegnung war eines der gelungensten musikalischen Experimente am letzten Wochenende beim Tanz- und Folkfestival in Rudolstadt. Hier, in Ostthüringen, wird alles mit allem fusioniert. Längst vorbei die Zeiten, in denen Folk als Musik für PuristInnen galt, die strikt über das Reinheitsgebot wachten. Der Stilmix ist geradezu Bedingung für die Einladung. Selbst Musiker aus fernen Steppenstaaten können nicht sicher sein, von den findigen OrganisatorInnen aufgestöbert zu werden. Und freuen sich natürlich umgekehrt über die Entdeckung.

Rudolstadt ist eine Wundertüte. Das Programm reicht von Stars der Weltmusikszene wie dem französisch-arabischen „Orchestre national de Barbès“ oder der mongolischen Sängerin Urna, die sich von einer bayerischen Zither begleiten läßt, über Mutabors „Blockflötenpunk“ bis hin zum örtlichen Tanz- und Folkloreensemble mit seinen stilisierten Trachten. Entsprechend bunt ist das Publikum. Punks mit grünen Haaren, ältere RudolstädterInnen in Strick- oder Windjacke, dazwischen jede Menge Folkies in bunten Gewändern.

Manchmal sieht man sie in einträchtiger Runde beisammenstehen, etwa bei Klaus, dem Geiger – dem wohl bekanntesten deutschen Straßenmusikanten. „Sommerzeit, haha – und das Leben könnte so easy sein.“ Beim letzten TFF war der Geiger eingeladen, diesmal nicht – worauf er seine ZuhörerInnen mit beleidigter Miene hinweist: „Dieses Konzert ist nicht im Eintrittspreis enthalten.“ Ach so. Fortan füllt sich der Geigenkasten des Musikers, der aussieht wie ein promovierter Schuhmachermeister. Und so ähnlich reimt: „Life is hard – hiha huha hard“.

Rudolstadt ist easy, jedenfalls solange es nicht regnet. Die Straße ist quasi die Zusatzbühne, während sich das offizielle Programm auf fast allen Plätzen der inzwischen weitgehend sanierten Innenstadt abspielt. Bühnen stehen auch im nahe gelegenen Heinepark und im Innenhof der über der Stadt thronenden barocken Heidecksburg. Selbst Bürgermeister Hartmut Franz von den Freien Wählern hat seinen Hinterhof für zwei kleinere Konzerte zur Verfügung gestellt.

30.000 Einwohner leben in dem beschaulichen Städtchen. Crossover hin, Globalisierung her – McDonald's hat sich noch nicht angesiedelt. Das einstige Kino „Aktivist“ spricht seinem Namen nur noch hohn, aber immerhin gibt es einen Bioladen im Stadtzentrum. Blüht hier eine Landschaft? Oder hockt die Depression hinter der Fassade?

Rudolstadt hat etwas von Postkartenidylle. Doch das ist vor allem der Blick des Besuchers. Die Einheimischen wissen schon, was sie an ihrem Festival haben. Die restlichen 362 Tage ist das Leben an der Saale ruhig und – bei 20 Prozent Arbeitslosigkeit – wohl auch etwas grau.

Jeweils am ersten Juliwochenende dann der Einmarsch der 10.000. Der „Boulevard“ zwischen Parfümerie „Germania“ und „Blume 2000“ wird frequentiert wie sonst nie. Nichts, was es in den Siebzigern gab, ist für Rudolstadt verloren. Es gibt Hippie-Nippes, Tücher, Kettchen, Kunsthandwerk, ebenso natürlich Thüringer Bratwurst und vegetarische Spezialitäten von „Govinda“, einem Hare-Krishna-Unternehmen.

Nicht alle sind soviel Welt gewachsen. „Ich erlebe während des Folkfestes nur Belästigungen“, zitiert die Lokalzeitung einen älteren Stadtbewohner, „die Innenstadt ist abgesperrt, und man versteht sein eigenes Wort nicht mehr.“ Doch Bürgermeister Franz will von einer angeblichen Stadtflucht seiner Untertanen nichts wissen: „Meine Freunde und Bekannten gehen alle auf das Fest.“ Tatsächlich stammen fast die Hälfte der Dauerbesucher aus Rudolstadt und Umgebung – gerade sie sorgen für die bunte Mischung des Publikums.

Kaum zu sehen sind junge Männer in Bomberjacken – obwohl auch Rudolstadt seine rechte Szene hat. Die etwa gleichgroße Kreisstadt Saalfeld – sie gilt zumindest im Westen als Fascho-Hochburg – liegt nur eine Viertelstunde entfernt. „Wir hatten mit den Rechten bisher keine Probleme“, berichtet Wolfram Böhme vom TFF-Medienbüro. Das Folkfest ist vor Ort offensichtlich so stark akzeptiert, daß die Rechten hier lieber keine Konflikte suchen – obwohl ihre bevorzugten Haßobjekte hier natürlich das Erscheinungsbild prägen: Ausländer.

Damit die Rudolstädter „ihr“ Tanz- und Folkfest auch weiterhin liebhaben, bekommen sie vergünstigte Eintrittskarten. Eine Spende der Kreissparkasse macht's möglich. Kulturdezernentin Petra Rottschalk (SPD) sieht das Fest ohnehin nicht so sehr als Imagewerbung für die Stadt, sondern als großes „Bürgerfest“, von dem letztlich ganz Deutschland profitiert. Sagen wir: ganz Ostdeutschland. „In diesem Jahr haben wir rund 90 Prozent der Bühnentechnik in den neuen Ländern eingekauft.“

Ökonomisch interessant ist das TFF auch für InstrumentenbauerInnen einheimischer wie ausländischer Art. Vor dem Amtsgericht steht Stand an Stand. Zu kaufen gibt es Geigen, Drehleiern und Didgeridoos, aber auch eher unbekannte Instrumente wie Ozeantrommeln, Brummtöpfe oder Rauschpfeifen. Letzteres ist übrigens eine Art Oboe und dient in der Praxis nicht der Einnahme von Betäubungsmitteln.

Begonnen hat alles im Jahr 1955. Damals richtete die DDR in Rudolstadt das gesamtdeutsche „Fest des deutschen Volkstanzes“ aus. Das Miteinander von Ost und West fiel dann bekanntlich in den Kalten Krieg. Rudolstadt wurde zum reinen Ost-Ereignis – zuerst als Kreis- und Bezirkstanzfest, ab 1969 als „Tanzfest der DDR“. Zu sehen gab's vor allem Bühnendarbietungen und den edlen Wettstreit der „Volkskunstkollektive“ aus der DDR und den Bruderländern.

Nach der Wende öffnete sich das Festival in mehrerlei Hinsicht. Nicht nur, daß nun KünstlerInnen aus aller Welt kommen konnten – die Beschränkung auf den Tanz wurde aufgegeben, Konzerte rückten in den Mittelpunkt. Auch das Volkstümliche spielt seither keine große Rolle mehr: Welt- und Europamusik aller Art sind der Maßstab.

Umgesetzt wurde die Rudolstädter Variante der Wende ab 1991 durch ein Team alter Folk- Kämpen aus Ost- und Westdeutschland. An vorderster Front: Uli Doberenz von der Leipziger Gruppe „Folkländer“ und der Rheinländer Bernhard Hanneken (ehemals Chefredakteur der Zeitschrift Folk-Michel). Das Resultat war ein kleiner Folk-Boom über die Region hinaus (vgl. taz vom 29.4.1998). Auch in diesem Jahr ist Rudolstadt mit über 60.000 BesucherInnen wieder eines der wichtigsten Folk-Ereignisse in Europa. Wohl nirgends wird ein so dichtes Programm geboten.

18 Bühnen bedeuten für das Publikum allerdings auch Streß. Ständig muß man sich entscheiden. Und das zwischen Angeboten, die man meist gar nicht kennt – schließlich ist Musik à la Rudolstadt im Radio ja kaum zu hören. Orientierung bietet nur das wunderbare Programmheft, das mit seinen 200 Seiten eigentlich „Programmbuch“ heißen müßte. Voll sind natürlich die Konzerte von Top Acts wie Altan aus Irland oder die Klezmatics aus den USA. Ansonsten sucht jeder nach seinem ureigenen Highlight unter den rund 90 Bands, Ensembles und KünstlerInnen. Streng subjektiv daher auch die Nennung meiner diesjährigen Favoriten: Flook! Die Gruppe stammt aus Großbritannien und präsentiert sich mit drei virtuos dahinfliegenden Flöten, Gitarre und Bodhran.

Wem das alles zu unübersichtlich ist, der kann sich an den jährlichen Länderschwerpunkt und das sogenannte magische Instrument halten – in diesem Jahr Portugal und das Banjo. Aus Portugal gab es nicht nur Fado, den urbanen Blues Lissabons, zu hören. Realjo etwa präsentierte zarteste, fast schon kammermusikalische Ensemblemusik mit Mandoline, Drehleier, Geige und natürlich der Viola, einer typisch portugiesischen Gitarrenart.

Für die beteiligten Künstler oft noch spannender als für das Publikum ist das Projekt „magisches Instrument“. So wurden in diesem Jahr sechs Banjospieler aus den USA, Irland, Tschechien, Japan, der Türkei und dem Iran nach Rudolstadt eingeladen. Eine Woche hatten sie Zeit, ein gemeinsames Programm für das Festival zu erarbeiten. „Wenn so unterschiedliche Kulturen und Spielweisen aufeinandertreffen“, betonte Banjostar Tony Trischka aus den USA, „ist das für uns Musiker unheimlich lehrreich.“ Auf seiner nächsten CD-Produktion werden wohl auch einige Kollegen zu hören sein, die er erst jetzt in Rudolstadt kennenlernte.

Letzte der Festival-Traditionen ist die Verleihung des deutschen Folkförderpreises. In diesem Jahr ging er an die Kerberbrothers aus dem Allgäu für ihre abenteuerlichen Mischung aus Jazz und alpenländischer Hausmusik. Zu ihrem Programm gehört auch „das erste Schlagzeugsolo, zu dem gejodelt wird“. Das Ganze firmiert dann unter dem schön ausgedachten Etikett „Alpenfusion“ und zeigt wieder einmal, daß ohne Fusionen heute kaum noch spannende Musik zu machen ist.