Gemütlichkeitsversprechen mit Geheimzahl 775

■ Das Kalligramm ist umgezogen (auf die andere Straßenseite) und hat schon erste Weinflecken ...

Wenn es so etwas wie Heimat gibt, dann konstituiert sie sich durch freundliche Orte. Zur Kreuzberger Heimat gehört beispielsweise unbedingt die Imbißbude am Heinrichplatz, wo es die besten Sandwiches gibt, lecker Kuchen und dazu immer ein nettes Gespräch. Oder das Antiquariat Kalligramm in der Oranienstraße, das man nicht nur aufsucht, um Bücher zu finden, sondern auch, um Olaf, den Antiquar, zu besuchen.

Jetzt hat Kalligramm die Straßenseite gewechselt und die Räume der ehemaligen Galerie Endart bezogen. Die Umgewöhnung läßt sich verkraften. Nach zwei Monaten Umzugspause war die Eröffnung klug auf den ersten spielfreien Tag der Weltmeisterschaft terminiert: Antiquare mit Weitsicht weiß man zu schätzen. Und so konnte man ganz entspannt die neue Atmosphäre prüfen, die frisch abgezogenen Dielen und die neuen Regale loben und auf den gemütlichkeitsversprechenden Treppenstufen zum Hinterzimmer probesitzen.

Ein bißchen seltsam wirkt es schon, so ein helles, nigelnagelneues Antiquariat mit fleckenlosen Wänden, wo die Bücher noch ganz ordentlich in den Regalen stehen. Denn eigentlich müssen Antiquariate geschichtsverkrustet und zeitvergilbt sein, dunkel und unübersichtlich, damit man wie mit geschlossenen Augen aus der Zeit gefallene, nach Staub, Keller und Vergangenheiten riechende Bücher aus irgendwelchen Winkeln fischen kann. Doch die Eröffnungsgäste arbeiten mit ihren Zigaretten und ersten Weinflecken auf den Dielen bereits zielstrebig daran, antiquariatstypische Patina herzustellen: Alles nur eine Frage der Zeit. Und auch die notwendige Unordnung mit Büchertischen und hochgeschichteten Stolperstapeln wird sich in dem jetzt noch ziemlich leeren Raum bald etablieren. Denn darin besteht die wichtigste Produktivkraft dieser kulturellen Sekundärrohstoffsammelstellen: in ihrer Fähigkeit, Zusammenstöße zu organisieren und Überraschungen zu ermöglichen.

So schöne, sinnstiftende Worte sprach Matthias Greffrath als Eröffnungsredner. Er hatte ein paar alte Bücher über Antiquare mitgebracht, die er gleich zum Kauf anbot: „Der Antiquariatslehrling“ etwa, eine Schrift von 1938, mit guten Ratschlägen für den sammelnden Jüngling.

Anschließend gab Thomas Kapielski Kostproben aus seinem demnächst erscheinenden Buch mit 13 Gottesbeweisen, in denen es aber mehr ums Trinken, um rundliche Franken und um finnische Dörfer geht als um religiöse Erleuchtung. Außerdem konnte man erfahren, daß Kapielskis Fahrradzahlenschlößchen die Geheimzahl 775 hat. So steht es in seinem Buch: Literatur, die ein hohes Wagnis eingeht. Jörg Magenau