Spitzelwispern in den Schweizer Bergen

■ Der Bremer Wissenschaftler Holger Böning untersucht die Schweizer Variation der Französischen Revolution

1789 wurde die Bastille gestürmt. Bis es in der Schweiz hie und da – dezentralistisch – zum Hissen Dutzender von Freiheitsbäumen kam, sollte es noch bis 1798 dauern. Umgewendete Zahlen, veränderte Situation. Zwar fraßen sich auch in der Schweiz Wirtschafts- und Finanzkrisen zuallererst in die Mägen der Ärmsten hinein. Doch Hunger und Not waren nicht so drückend wie in Frankreich. Außerdem galt es in der Schweiz eben keineswegs, neue, unbekannte Freiheiten zu erobern. Die alten, verbrieften, aber weggeschlossenen demokratischen Rechte wollten wieder zurückgewonnen werden.

Im 18. Jahrhundert spukte durch Europa noch immer die Idee von einer Schweiz herum, die mit einem Bein im Rousseau'schen Naturzustand steht. Deutsche und englische Reisende besuchten „Philosophenbauern“ und sogenannte „Landsgemeinden“, um Basisdemokratie und Gerechtigkeit zu studieren und euphorisch zu besingen – als würden Albrecht von Hallers pathetische Alpen das Land abschotten von den Eitelkeiten und Egoismen der Großstädte. Doch längst konzentrierten sich auch in der Schweiz politische und wirtschaftliche Privilegien in den Händen immer weniger Familien. Rechtsgleichheit war nicht mehr gewährleistet. Weder in den Städten noch in den Winkeln versteckter Bergkantone. „Verwaltungspatriziertum“ nennt Holger Böning diesen Einzug feudalistischer Atavismen in den modernen Verwaltungsapparat zur Durchsetzung zeitloser Ausbeutung.

Weil sich das Bergvolk nicht so wahnsinnig gern an seine post-rüttlischen Revolutionen erinnert, tut es der Meeranrainer Böning für sie. Er ist einer von drei wissenschaftlichen Mitarbeitern des bundesweit einzigartigen „Instituts für Deutsche Presseforschung“. Dort macht er so irrwitzige Dinge wie zum Beispiel das ganze Hamburger Zeitungswesen aufzuarbeiten, von der kleinen Kirchenbroschüre über das Fachblatt für Landwirte bis zur einflußreichen politischen Publikation.

Oder er erstellt schwergewichtige Sammelbände über leichtgewichtige Gebrauchsliteratur zur Belehrung des einfachen Volks.

Routiniert im Aufarbeiten des Stimmengewirrs einer Epoche, hat sich Böning auch der Schweizerischen Geschichte über ein Gefitzel von Anekdoten und O-Tönen genähert. Wir erlauschen, welche Despektierlichkeiten der Spitzel in der Schenke aufschnappt oder der Pfarrer von der Kanzel predigt, und erahnen ein Freiheitspathos, das heute abhanden gekommen ist.

„Jeder Kanton machte seine eigene Revolution. Diese war daher nirgends dieselbe, sondern wechselte von Ort zu Ort Zweck und Mittel“, hört der Leser den Volksaufklärer Heinrich Zschokke sprechen. Vor allem waren die diversen Revolutionen keineswegs von Frankreich aufgezwungen, sondern entsprangen einer eigenen aufklärerischen Tradition. Sogenannte moralische und ökonomische patriotische Gesellschaften bemühten sich schon Mitte des 18. Jahrhunderts darum, trotz Zensur den politischen Diskurs anzuzetteln. Privilegierte, aber auch Bauern setzten sich ein für die Abschaffung von Privilegien, für pragmatische Alltagserleichterungen, aber auch für ein strenges moralisches Bewußtsein.

Die Unterschiedlichkeit der Interessen und der Radikalitätsgrade der Umstürzler war es unter anderem, die die Revolution knappe 50 Jahre zum Pausieren brachte. Immerhin kann die Schweiz stolz darauf sein, die einzige funktionierende 1848er-Revolution zu besitzen. Damals wurde der Schweizer Bundesstaat gegründet.

Barbara Kern

Holger Böning: „Der Traum von Freiheit und Gleichheit. Helvetische Revolution und Republik (1798-1803)“. Orell Füssli Verlag 1998