Die unbestechliche Logik des Kuhmagens

■ Was ist an der Schweiz so faszinierend? Warum läßt ein Blick ins Archiv an der Jugoslawienberichterstattung zweifeln? Und weshalb sind die Fragen seiner 16jährigen Tochter ein Beweis für die Wiederkehr des Sozialismus? Holger Böning antwortet

Wie wird aus einem Menschen ein Wissenschaftler? Wen trifft man in dunklen Archiven? Ist die Schweiz ein Paradies – zumindest für Forscher? Und vor allem: War früher nicht alles besser: das Wetter, die Welt und die auf ihr herumlaufenden Journalisten? Fragen über Fragen. Einen Großteil davon beantwortet dankenswerterweise Holger Böning, der Autor des oben besprochenen Buches im folgenden Interview. Der 49jährige Literaturwissenschaftler arbeitet als Privatdozent an der Bremer Uni und ist Mitarbeiter des Instituts für Deutsche Presseforschung. Dort ist auch seine kürzlich veröffentlichte Studie über die auch von den Schweizern vergessene Schweizer Revolution entstanden.

taz: Sie beschäftigen sich seit 20 Jahren mit populärer Gebrauchsliteratur und Schweizer Geschichte. Wie kommt's?

Holger Böning: Eigentlich bin ich Literaturwissenschaftler. Schon während des Studiums schweifte ich ab von den universitären Hauptpfaden auf literarisches Terrain abseits der Höhenkammkunst. Denn all die Autoren, die heute das Studium dominieren – ein Goethe, ein Schiller –, wurden in ihrer Zeit von gerade mal einem Prozent der Bevölkerung rezipiert. Dagegen hatten Schriften für das sogenannte „Volk“ – damit meinten die Aufklärer witzigerweise immer die ungebildeten Schichten – nicht selten sechsstellige Auflagen. Aber auch zahlenmäßig dominieren die Gebrauchstexte. 17.000 Texte sind erhalten, die Rat spenden für richtige Ernährung, richtiges Düngemittel oder richtige Erziehung.

Woher rührt Ihr Interesse für die Schweiz?

Als Thema für meine Promotion standen zur Auswahl der Bremer Friedo Lampe mit einem schmalen Werk expressionistischer Hochkultur, das mich doch sehr gelangweilt hat, oder Heinrich Zschokke, der vielleicht meistgelesene Autor Anfang des 19. Jahrhunderts. Dieser überaus aktive Mann schrieb Romane für Gebildete, aber auch Erzählungen für sogenannte einfache Leser. Hochinteressant. Da fiel die Entscheidung nicht schwer. Zschokke wanderte aus: von Magdeburg in die Schweiz. Ich hinterher – zumindest geistig. Dort gab er den „Aufrichtigen und wohlerfahrenen Schweizer Boten“ heraus von 1798 bis 1848. Anliegen dieser Zeitung war es, die Revolution zu popularisieren. Außerdem schrieb Zschokke Romane und Bildsames über Forstwirtschaft oder Medizin – nichts, was diesen Mann nicht interessiert hätte.

Warum gleich ein historischer Gesamtabriß?

Während meiner Recherchen staunte ich nicht schlecht, daß es keine aktuelle, wissenschaftliche Literatur zur Schweizer Revolution gab. Und nicht nur das: Sie ist auch aus dem kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung verschwunden. Das stellte ich abends, nach der Tagesfron, bei Bier und Gesprächen in der Kneipe fest. So ist meine Studie schließlich entstanden.

Und die quillt über von O-Tönen aus Kneipengeplauder – in diesem Fall historischem –, Flugblättern, Aufklärerschriften, Politikerdekreten. Wie hat man sich die Sammelarbeit vorzustellen?

Die Quellenlage in der Schweiz ist hervorragend, und zwar wegen der Abwesenheit von Kriegen. Seit 20 Jahren fahre ich mindestens einmal im Jahr in die Schweiz und stöbere zwei, drei Wochen in Archiven. Da läppert sich viel Material zusammen.

Welche Erfahrungen haben Sie mit Schweizer Archiven gemacht?

Die sind meist gut organisiert. Sogenannte „Findbücher“ lotsen durch den Blätterwald. Schwieriger als die Orientierung war am Anfang eher die Entzifferung von alten Handschriften. Da schnappte ich mir meine Mutter und ließ mich von ihr in die alte Fraktur einweisen.

Haben Sie schon mal einen Tag umsonst gestöbert?

Was ist umsonst? Aber natürlich: Die Ausbeute schwankt.

Schon mal Überraschungen erlebt?

Ja. Zum Beispiel war ich ausgesprochen erstaunt über Menge und Verbreitungsgrad politischer Flugschriften. Auch das 18. Jahrhundert hatte seine Massenmedien.

Schon mal am Sinn der Wühlarbeit in den Quellen gezweifelt?

Sie werden es nicht glauben, aber die Antwort ist nein. Die Möglichkeit zu forschen war für mich die Realisierung eines Traums.

Verschiebt die Kenntnis der historischen Zeitschriftenlandschaft den Blick auf die aktuelle?

Ja. Im 18. und zum Teil noch im 19. Jahrhundert haben Journalisten immer ein Anliegen. Und eine Ethik. Manchmal auch die Bereitschaft, Gefängnis oder Ausweisung in Kauf zu nehmen. Daran kann man sich schon freuen, daß es einmal Menschen gab, die einen solchen Mut hatten. Pressearbeit war Überzeugungsarbeit, nicht nur ein Beruf zum Geldverdienen. Außerdem: Wer sieht, wie früher die Zensur eingriff, dessen Bewußtsein ist geschärft für unser heutiges Glück, fast alles sagen zu können. Umso deprimierender ist es dann, wenn viele Journalisten heute als Mikrophonständer der Macht fungieren.

Aufgrund der Zensur existierte die französische Revolution in den Köpfen der Schweizer vor allem als Wirtshausgerücht?

Richtig. Und das Gerücht wurde gezielt eingesetzt, von beiden Seiten, vor allem aber mit gegenrevolutionärem Antrieb in den katholischen Kantonen. Da wurde von der vermeintlichen Schändung von Klöstern und Altären daherfantasiert; obwohl die Schweizer Revolution – anders als die Französische – die religiöse Toleranz immer hochhielt. Außerdem schürten die reaktionären Kräfte die Angst, Napoleon würde die jungen Schweizer Männer zwangsweise im Ägyptenfeldzug verheizen.

Das macht vorsichtig auch gegenüber den heutigen Medien?

Klar. Unserer Jugoslawienberichterstattung begegne ich mit einer gewissen Skepsis. Das Gute und Böse scheint mir irgendwie zu simpel verteilt.

Im Schlußwort Ihres Buchs deuten Sie das Timing der Schweizer Demokratisierung mit Hilfe einer Art Verfeinerungslogik ...

Die Revolution 1798 probte die Demokratisierung im Schnellverfahren; entsprechend fehlerhaft wurde sie durchgeführt. Bis 1848 wurde der ganze Prozeß noch einmal in Ruhe wiederholt; jetzt mit dauerhaftem Erfolg.

Sehen Sie dieses Prinzip des verlangsamten, dafür aber auch verbesserten zweiten Durchlaufs auch an anderen Orten und Zeiten der Geschichte?

Es wäre interessant, dies zu überprüfen. Natürlich hat die Vorstellung von einem zweiten, reiferen Versuch mit dem Sozialismus einen gewissen Charme. Schließlich braucht auch ein Kuhmagen vier Anläufe, um seine Nahrung anständig zu verdauen. Ich habe eine 16jährige Tochter. Die besucht Rosa-Luxenburg-Kongresse und ist schrecklich entsetzt über unsinnige Fraktions-Streitereien. Da ahne ich ein Weitertreiben kritischen Denkens auf klügerem Niveau. Fragen: Barbara Kern