Schüttle es, zerbrich es nicht

Jeder hat den Blues, keiner weiß Bescheid: Gérard Herzhafts „Enzyklopädie des Blues“, jetzt auf deutsch erschienen, ist das überfällige Grundlagenwerk. Big Time Sarah, Lonesome Sundown – Namen, die in keinem Konversationslexikon auftauchen  ■ Von Thomas Groß

„Bukka White, Bluessänger, Aberdeen, Mississippi“ stand auf dem Umschlag eines Briefes, den zwei junge weiße Gitarristen im Jahr 1962 auf Reisen schickten. Sie sollen recht überrascht gewesen sein, als tatsächlich eine Antwort kam, und noch überraschter, als Booker T. Washington „Bukka“ White sich bei der ersten Begegnung als rüstiger Mittfünfziger herausstellte, der weder einsam vor seiner Südstaatenhütte Akkorde zupfte noch daran dachte, in Bälde das Zeitliche zu segnen.

Die Episode, eher beiläufig erwähnt in Gérard Herzhafts „Enzyklopädie des Blues“, ist von einer gewissen Symbolkraft für den Clash von Bildern und Ewartungen bei der Wiederentdeckung eines kulturell mißachteten Genres. Als die ersten – weißen und vorwiegend mittelständischen – Forscher ausschwärmten, war der Blues das nämlich noch. Inzwischen lautet die Frage eher: Wer „hat“ „den“ „Blues“ eigentlich nicht?

Es gibt Homepages im Internet, in den letzten 25 Jahren ist so viel Literatur zum Thema erschienen wie in den acht Jahrzehnten davor nicht, die notorischen Blues Brothers sind parallel zu Roland Emmerichs „Godzilla“ filmisch reanimiert worden (demnächst in Ihrem Kino), und der Frankfurter 2001- Versand verramscht dazu maßstabsgetreu 40 Blues-CDs für ein Taschengeld. Die Stunde der Pioniere im globalen Geschäft des Wiederentdeckens scheint vorbei. Doch sieht man für einen Moment vom bloßen Output der Archive ab, die heute für nahezu jedes Revival weit offen stehen, sind gerade mal vier Standardwerke zum Thema auf deutsch erschienen. Herzhafts „Enzyklopädie“, die Arbeit eines Franzosen, ist darunter eine echte Pionierleistung.

Die ursprüngliche Erhebung geht auf die späten sechziger, vor allem aber die siebziger Jahre zurück, in denen der Autor, teils unter schwierigen finanziellen Bedingungen, kreuz und quer durch die USA reiste, immer auf der Suche nach biographischen Daten, Schallplatten, persönlichen Begegnungen mit den alten Bluesleuten, gerade den weniger bekannten. Buster Benton, Big Time Sarah, Blind Lemon Jefferson, George „Wild Child“ Butler, Frankie „Half Pint“ Jackson, Chicago Bob, Homesick James, Cripple Clarence Lofton, Lonesome Sundown, Valerie Wellington – alles Namen, die in keinem Konversationslexikon auftauchten. Herzhaft hat sie erstmals systematisch kodifiziert. Von ihrem Ursprungsimpuls her ist die „Enzyklopädie“ ein Findebuch für Verschollene, deren Beitrag zum Blues in biographisch orientierten Artikeln beschrieben und gewürdigt wird.

Unter K wie „King“ drängeln sich die Einträge – „König“ war schon vor Elvis die angestrebte Position. Einer, Riley Ben „B.B.“ King, schaffte es tatsächlich zum Superstar des Genres, ein Realist und Selbsterfinder unter den Bluesmen, der seine Karriere konsequent plante und zu (fast) jedem Zeitpunkt die Kontrolle darüber behielt. Ansonsten haben Herzhafts Minibiographien – ohne dem weißen Klischee vom romantischen schwarzen Verlierer entgegenzukommen – vom Ende her gelesen oft etwas erschütternd Lapidares. Big Maceo: „Er starb völlig verarmt nach einem zweiten Schlaganfall 1952“; Blind Willie Johnson: „Etwa 1947 brannte sein Haus ab, und er schlief in der Asche. Dadurch zog er sich eine Lungenentzündung zu und starb, weil das örtliche Krankenhaus die Aufnahme verweigerte, da seine Blindheit unheilbar sei“; Joe Hill Louis: „So starb er 1957 an Wundstarrkrampf, weil er nicht das Geld hatte, sich eine Tetanusspritze geben zu lassen“; Tommy Johnson: „Er starb 1956 an Alkoholvergiftung“; Texas Alexander: „...1954 vermutlich in der Gegend von Houston an Syphilis gestorben“; Blind Willie McTell: „...wurde von einer Bande von Straßenjungen zusammengeschlagen, die ihm seine Gitarre stahlen“; James „Sugar Boy“ Crawford, der bei den Cane Cutters am Klavier saß: „Der intensive Rhythmus und die ansteckende Lebensfreude dieser Band machten sie ungemein populär bis etwa 1960, als Sugar Boy vom Ku-Klux-Klan gelyncht wurde.“

Daß gleich darauf die Auswahldiskographie zum jeweiligen Interpreten folgt, entspricht dem Lauf der Dinge, markiert aber auch die Grenzen des musikologisch-datensammlerischen Zugriffs. Herzhaft will das Beste, verknappt es aber zwangsläufig zur Verkaufsempfehlung. Sein biographischer Ansatz bringt es mit sich, daß er sich auf die komplizierteren Verästelungen des Genres gleich gar nicht erst einläßt.

„Blues“, die Sache selbst, ist ihm einen Eintrag zwischen „Little Joe Blue“ und „Blues Revival“ wert, der sich auf einige wenige Charakteristika und Eckdaten beschränkt: das 12-Takt-Schema, die verminderte Terz und Septime („Blue Notes“), das Wechselspiel zwischen Stimme und Instrument, eine soziologische Skizze vom Blues als „Musik der Segregation“. Immer wieder muß der Blues als „Feeling“ den Blues definieren: „The Blues ain't nothing but a good man feeling bad.“

Inmitten der Fülle von Namen, Platten und Positionen scheint dem Autor zu schwanen, daß die Anwendung der auf Diderot zurückgehenden bürgerlich-aufklärerischen Idee einer „Enzyklopädie“ auf ein so brüchiges Gebilde wie den Blues auch etwas Gewaltsames hat. Zwar war es das kommerzielle, identifikatorische oder wissenschaftliche Interesse von Weißen, das den Gegenstand, wie wir ihn kennen, mit hervorbrachte: Auf Dauer kein B.B. King ohne Elvis Superstar, kein Blues- Revival ohne die Suche verlorener weißer Söhne nach besseren Vätern, und wären die Forscher John und Alan Lomax in den Dreißigern nicht mit dem Mikrofon ins Feld gezogen, der Korpus an erhaltenen Aufnahmen wäre sehr viel schmaler.

Doch mit ihrer Erfassung, Beschreibung und Vereinheitlichung beginnt die Musik sich eben auch zu verändern. Sie wird zum Käfer auf der Nadel, zum Kind mit Namen und Legende, und wo sie weiterlebt, ist sie bald nicht mehr wiederzuerkennen. Mit den internationalen, kommerziell erfolgreichen Bluesfestivals der Siebziger und Achtziger wird Blues zur „Folklore der Welt“ (Herzhaft). Berufene wie Epigonen haben sie gleichermaßen in ihrem „Repertoire“.

Eine strenge Methodenreflexion der komplizierten Überlieferungswege des Blues darf man sich von diesem ansonsten verdienstvollen Standardwerk allenfalls im Ansatz erwarten. Es dominiert jener leise Ton der Melancholie, der Klage über ein Verschwinden, wie man ihn von der erzählenden Literatur und von Tierfilmen her kennt.

Herzhafts Beschränkung aufs bewahrende Aufschreiben hat aber auch etwas sympathisch Bescheidenes. Seit der Blues im kollektiven Phantasieren aufgegangen ist, tut sich die positivistische Wissenschaft nämlich ohnehin schwer mit ihm. Man weiß heute, wie „es fühlt“, ein rollender Stein zu sein, aber man weiß nicht mehr wirklich, was da rollt. Es schnippen bloß die Finger im Rhythmus verschwommener Traurigkeiten.

Immerhin: Etwas hat überlebt, und das simple Memorieren einiger Blueszeilen macht das evident. Wie viele Male und mit welchen Folgen etwa die Aufforderung, „das Ding zu schütteln“, ergangen ist, gemildert durch den Rat, „es ja nicht zu zerbrechen“, ist von keinem Kinsey Report zu ermessen.

Gérard Herzhaft: „Enzyklopädie des Blues“. Hannibal Verlag, 363 Seiten, 40 DM