Die Vorschau
: Zwischen Anarchie und Analyse

■ Sonic Youth spielen am Wochenende auf dem riesigen Open-Air-Festival „HURRICANE“ in Scheessel

Seit den späten Achtzigern werden Sonic Youth von jungen Gitarrenhelden in jedem zweiten Bandinfo als Referenz genannt – und dennoch kommt die Band nicht an die Megaseller des „alternativen“ Musikgeschäfts heran. Gitarrist Thurston Moore brachte dieses Mißverhältnis bereits lakonisch auf den Punkt. „Wir sind zwar die neuen Beatles. Aber niemand weiß das.“ Doch obwohl zumindest in der unabhängigen Musikszene die Rolle der Band als Geburtshelfer unbestritten ist, behauptet der Journalist Alec Foege in der Bandbiographie „Confusion is next“ nicht nur, daß Rock tot sei – auch hätten die vier New Yorker geholfen, ihn umzubringen.

Eine Einschätzung, die Schlagzeuger Steve Shelley nicht teilt. Seine knappe Antwort auf die Frage, ob denn die Band jemals vorgehabt habe, die Rockmusik zu erledigen: „Nein.“

Gesprächiger wird er bei einem anderen Thema. Denn das, was die Band von anderen abhebt, ist ihre sechzehn Jahre und vierzehn Alben andauernde Gratwanderung zwischen Anarchie und Analyse. Obsessiv beschäftigen sie sich mit dem ewig amerikanischen Material, das von Madonna bis zu Charles Manson reicht – weswegen ihre Platten durchaus auch ins Bücherregal neben William S. Burroughs oder andere Outsider passen.

Was Steve Shelley nicht unrecht wäre: „In einem Regal mit ihm würden wir uns sicherlich wohl fühlen. Seine Arbeit stellt für uns nach wie vor eine Inspirationsquelle dar.“

Die Verbindung zu den Beatniks wird auf der aktuellen Platte „A Thousand Leaves“ sichtbar. Das Elf-Minuten-Epos „Hits of Sunshine“ erinnert an den Dichter-Buddha Allen Ginsberg. Steve Shelley berichtet: „Thurston hat das Lied an dem Tag nach Ginsbergs Tod geschrieben, da er in den letzten Jahren zu einem guten Bekannten von uns geworden war. Wir traten gemeinsam bei den Dichterlesungen in der St. Mark's Church auf, und er kam sogar zu einigen unserer Konzerte. Überhaupt hat er sich sehr aktiv in der New Yorker Szene bewegt.“ Die Vorstellung von New York als Heimat aller Kreativität teilt er jedoch nicht: „Zwar passiert hier vieles, aber überall auf der Welt gibt es Gruppen von Leuten, die ähnliches tun. Nach New York geht man einfach, um wahrgenommen zu werden.“

Das ist auf politischem Terrain wieder Ziel der Band, die mit dem Opener „Contre Le Sexisme“ und „Female Mechanic Now On Duty“ zwei kratzige Nummern mit Statement-Charakter aufgenommen hat. In einem neuen eigenen Studio entstehen nach dem „Trial and Error“-Prinzip instrumentelle Skizzen späterer Songs, die auf dem bandeigenen Label „SYR“ veröffentlicht werden. Als wilde Improvisationen überschreiten sie auch mal die 20-Minuten-Grenze und schlagen so den großen Bogen zurück zu den experimentellen Anfangstagen. „A Thousands Leaves“ hingegen ist, verglichen mit den Kracher-Alben „Daydream Nation“ und „Goo“, ein Werk von milder Weisheit geworden, das hier und da noch einmal die Muskeln spielen läßt, aber an anderen Stellen eine Leichtigkeit entwirft, von der sich viele junge Bands eine Scheibe abschneiden könnten. So bringen Sonic Youth die Rockmusik nicht etwa um, sondern helfen ihr, erwachsen zu werden – wofür es in den späten Neunzigern ja auch höchste Zeit ist. Gunnar Lützow

Sonic Youth spielt – neben vielen anderen – am Wochenende (Sa/So) auf dem Open-Air-Festival „HURRICANE“ in Scheessel. Infos und Karten gibt es unter 040 / 41 80 68