Das schweizerische Modellprojekt sorgt für Furore

■ Das Experiment, Schwerstabhängige kontrolliert mit Heroin zu versorgen, hatte Erfolg: Die Junkies wurden ansprechbar, keiner starb an Überdosierung, der Beschaffungsdiebstahl ging zurück

Der Zentralvorstand der Schweizer Volkspartei war beeindruckt. „Die Versuche haben gezeigt, daß die kontrollierte Abgabe von Suchtmitteln an Schwerstabhängige eine Möglichkeit sein kann, abhängige Menschen stufenweise von der Sucht wegzubringen.“ Das erklärte die Partei zwei Jahre nachdem 1994 die ersten drei eidgenössischen Modellversuche zur ärztlichen Heroinverschreibung in Bern, Biel und Thun begonnen hatten. Die Stellungnahme der Konservativen spiegelt den breiten gesellschaftlichen Konsens wider, den das Drogenexperiment inzwischen erreicht hat. Zu Recht: Mit ihrer Vergabe von Heroin an Schwerstabhängige haben die Schweizer Nachbarn verblüffende Erfolge erzielt. Die Junkies wurden wieder ansprechbar, konnten zu beachtlichen Teilen beruflich und sozial integriert werden. Raub und Diebstahl zur Finanzierung der täglichen Spritze gingen drastisch zurück. Und vor allem: Die Suchtkranken überlebten, während in Deutschland noch immer 70 Prozent der Drogentoten auf eine „unbeabsichtigte Überdosierung“ zurückgehen.

Wer an den Schweizer Modellversuchen teilnehmen darf, erfüllt mustergültig die Kriteren des Elends. Die zugelassenen Junkies hängen seit mindestens zwei Jahren voll an der Nadel, sie haben mehrere Therapien erfolglos abgebrochen, sie sind arbeits- und oft obdachlos, hoch verschuldet, häufig HIV-infiziert und krank. Sie leben von illegalen Einkünften, Dealen und Prostitution. Sie sind straffällig geworden oder saßen im Knast. Ihr Drogenkonsum ist chaotisch und lebensgefährlich.

Mit der Teilnahme an der Heroinverschreibung ändert sich ihr Leben dramatisch. Sie müssen täglich an der Abgabestelle erscheinen und den Stoff unter Aufsicht „steril, langsam und mit minimaler Schädigung der Vene“ injiziieren. Sie müssen penibel die Hausordnung befolgen, sich zweimal pro Woche zum begleitenden Therapiegespräch mit ihrem Sozialarbeiter treffen. Einmal im Monat müssen sie den Arzt konsultieren. Nach dem vorläufigen Abschlußbericht des Schweizer Gesundheitsamts vom Juli 1997 haben insgesamt 1.146 Patienten an 18 verschiedenen Orten an der kontrollierten Heroinabgabe teilgenommen.

Die Ergebnisse haben für Furore gesorgt:

– Der körperlich- gesundheitliche Zustand der Junkies hat sich erheblich verbessert und stabilisiert.

– Der illegale Heroin- und Kokainkonsum ist „rasch und deutlich zurückgegangen“.

– Die Beschaffungskriminalität nahm dramatisch um fast zwei Drittel ab, ebenso Verurteilungen und Knastaufenthalte.

– Die Wohnsituation hat sich gebessert, die Zahl der Obdachlosen sank rapide.

– Viele Abhängige konnten wieder arbeiten. Festanstellungen stiegen von anfangs 14 auf heute 32 Prozent.

– Kein Junkie ist durch eine Überdosierung gestorben.

Auch der geringe Drop-out ist beachtlich. Nach eineinhalb Jahren standen noch knapp 70 Prozent der Schwerstabhängigen im Modellprojekt unter ärztlicher Aufsicht, angesichts der Klientel ist dies eine Traumquote. Unter dem Einfluß der Therapie sank die durchschnittlich verabreichte Tagesdosis an Heroin von 609 Milligramm auf 345 Milligramm. Fünf Prozent der Suchtkranken schafften den Ausstieg aus der Sucht und wurden abstinent.

Das inzwischen etablierte Modellprojekt der Heroinverschreibung hat sich auch ökonomisch gerechnet. Das Berner Bundesamt für Gesundheit beziffert die Kosten pro Patient und Tag auf 51 Franken, denen Einnahmen von 35 Franken durch Krankenkasse und Kostenbeiträge der Patienten gegenüberstehen. Macht 16 Franken pro Tag. Der Fixer auf der Straße kostet die Bundesrepublik – Schätzungen zufolge – durch seine Beschaffungskriminalität, durch aufwendige polizeiliche und juristische Verfolgung etc. mehr als 100.000 Mark im Jahr.