Vom Küken zur Chefin

■ Mathilde Lehmann schaffte, was nach ihr keiner mehr gelang: Sie war die einzige Stadtverordnetenvorsteherin in Bremerhaven

Als Mathilde Lehman 1946 zu ersten politischen Ehren kam – zu einem SPD-Mandat in der Bremerhavener Ratsversammlung – war sie dort die Jüngste. Und auch politisch war die gelernte Kauffrau und junge Mutter noch ein Küken unter den GenossInnen, die sich nach jahrelanger Nazi-Diktatur und Verfolgung auf der demokratischen Bühne zurückgemeldet hatten. „Damals glaubte ich noch, daß alle Sozialdemokraten gute Menschen sind“, sagt die heute 81jährige. Nachdem sie fast 40 Jahre lang für die SPD in Bremerhaven Kommunalpolitik machte – zuletzt sechs Jahre lang als bislang einzige Vorsteherin der Stadtverordnetenversammlung – weiß sie es besser. Sie hat manchen Kollegen in schlechter Erinnerung. „Ich halte nichts davon, wenn Politiker Vorteile aus ihrer Position ziehen“, sagt sie.

An ihren Abschied aus der Politik – „ich war 66 Jahre, hatte immer gesagt, mit 65 höre ich auf, und mein Mann war schwer krank“ – erinnert sich Mathilde Lehmann dagegen gerne und ohne jedes falsche Pathos. „Danach wurde mein Rat dort nicht mehr gebraucht. Wir wollten den Rat der Alten ja auch nicht.“ So zog sie den Schlußstrich. Daß die ganze Stadtverordnetenversammlung ihr zuvor, am letzten Arbeitstag, stehende Ovationen darbrachte, war nach ihrem Geschmack. „Besser als die Idee, mich für das Bundesverdienstkreuz vorzuschlagen“, sagt die Rentnerin. „Bremer nehmen ja keine Orden.“ Dann kramt sie im hinteren Zimmer ihrer Bremerhavener Wohnung, in der sie seit über 50 Jahren wohnt – und bringt doch einen herbei. „Vom US-General in Garlstedt.“ Für ihre zivile Unterstützung der US-Armee steht auf der Rückseite. „Und das mir“, lacht die Pazifistin, die sich noch heute darüber ärgert, daß die SPD in der Frage der Wiederbewaffnung damals umgefallen ist.

Seit ihrer frühesten Jugend denkt Mathilde Lehmann politisch. „Ich bin in der Wolle sozialdemokratisch gefärbt“, sagt die Tochter eines Architekten, den die Nazis mit Berufsverbot belegt hatten. Ihr selbst hatten sie Abitur und Studium vermasselt. „Ich wäre gerne Lehrerin geworden“, erinnert sie sich. Aber nachdem Lehrer am Chemnitzer Wirtschaftsgymnasium den Eltern signalisierten, die damals 17jährige vor Schikanen nicht schützen zu können, ging sie von der Schule. Daß ihr größter Peiniger, Englisch-Studienrat Lange, im Krieg von einer britischen Bombe getötet wurde, erfuhr sie später von Freunden. „Wo er doch die Engländer immer seine guten Vettern nannte“, lehnt Mathilde Lehmann sich zurück.

Daß es Krieg geben würde, war schon der Schülerin Mathilde klar. „Wir hatten Hitlers Mein Kampf doch gelesen.“ Aber welche Verbrechen sich im Krieg tatsächlich zutrugen, was wirklich alles geschah – „das wußte ich nicht.“ Mathilde Lehmann erinnert sich noch genau wie sie es erfuhr. Die schottische Einquartierung rief sie ins Erdgeschoß ans Radio. „Da wurde über die Befreiung eines Konzentrationslagers berichtet“, und von den vergasten Opfern. Sie weinte und schämte sich, eine Deutsche zu sein. Wenn Mathilde Lehmann das sagt, glaubt man ihr – auch ohne daß sie hinzufügt „aber das haben ja dann alle gesagt.“

Warum sie schaffte, was nach ihr keiner Bremerhavenerin mehr gelang, darauf gibt die Politikerin keine Antwort. Sie sei immer dem Rat einer Kollegin gefolgt: „Frauen müssen sich schieben lassen., nicht selbst bewerben.“ Dennoch blieb ihr manches nicht erspart. So diskutierte die Fraktion vor ihrer Nominierung zur Bremerhavener Ratschefin die notorische – und allseits bekannte – Eifersucht des Ehemannes Lehmann. „Als Mann wäre mir das nicht passiert“, sagt sie. ede