Das Atom-Symbol auf der grünen Wiese

25 Jahre Widerstand gegen den Atomstaat: Das AKW Brokdorf. Teil 1: Die ersten Demos und Bauplatzbesetzungen 1976  ■ Von Kai von Appen

Kurz nach 20 Uhr am 30. Oktober 1976 meldet die Tagesschau exklusiv: „Mit einem großen Polizeiaufgebot ist am Abend das Gelände des geplanten Kernkraftwerks in Brokdorf geräumt worden, das am Mittag von mehreren hundert Kernkraftwerksgegnern besetzt worden war.“ Zum selben Zeitpunkt werkeln noch Hunderte von AtomgegnerInnen auf der matschigen Wiese zwischen den Gemeinden Brokdorf und Wewelsfleth im Kreis Steinburg von der Staatsmacht unbehelligt an ihrer Zeltstadt. Sie heben Gräben aus und schütten Schutzwälle auf, kochen und basteln in ihren Quartieren und richten sich auf einen längeren Aufenthalt ein. Denn kurz zuvor hatte die Polizei auf Vermittlung eines Pastors die Teilbesetzung des Bau-Areals akzeptiert.

Doch die zu früh veröffentlichte Meldung der aus eingeweihten Kreisen der Kieler Landespolitik vorab informierten Tagesschau-Redaktion nimmt nur vorweg, was zwei Stunden später Realität werden soll. Mit ebenso massiver wie unfreiwilliger staatlicher „Hilfe“ wird das AKW Brokdorf binnen kurzem zum Symbol des Widerstands der deutschen Anti-Atom-Bewegung.

Gegen 22 Uhr beginnt die Räumung. Massive Polizeikräfte rücken an, Wasserwerfer und Bulldozer fahren auf, Polizisten knüppeln auf Fliehende ein, Wasserwerfer spritzen ungeschützte Personen von der Wiese. Auf Pferden treiben uniformierte Reiter die BesetzerInnen auseinander, Bulldozer schieben die Zeltstadt samt Campingbussen und Schlafsäcken zu einem Schuttberg zusammen. „So viel Brutalität gab es noch nie“, entrüstet sich der Bürgermeister von Wewelsfleth vor laufenden Kameras. Bereits einen Tag nach der Räumung versammeln sich abermals 4000 Demonstranten am Bauplatz. Die einhellige Forderung: „Der Bauplatz muß wieder zur Wiese werden.“

Die Bauern in der Wilster Marsch hatten bereits seit Monaten einen Vorgeschmack darauf bekommen, was es bedeutet, sich mit der Atommacht anzulegen. 1973 hatte die Nordwestdeutsche Kraftwerks AG (NWK) Brokdorf als Standort eines Atommeilers auserkoren. Während die Reaktoren in Stade, Krümmel und im benachbarten Brunsbüttel nahezu lautlos hochgezogen werden konnten, rührt sich in der Wilster Marsch sofort Widerstand. Es gründet sich die Bürgerinitiative Umweltschutz Unterelbe, besser unter dem Kürzel BUU bekannt. Veranstaltungen, Bauernversammlungen und Info-abende werden durchgeführt. Bereits zu diesem Zeitpunkt sprechen sich in der Region 75 Prozent der Bevölkerung gegen das Atomkraftwerk aus – trotz der großzügigen NWK-Spende für den Bau einer Schwimmhalle in Brokdorf.

Als die NWK und die HEW (Hamburgische Electricitätswerke) 1974 die Baugenehmigung beantragen, legen innerhalb weniger Tage 31.178 Personen Widerspruch ein. Nach der Besetzung des AKW-Geländes im badischen Wyhl durch die örtlichen Bauern beschließt auch die BUU im Dezember 1975, „den Bauplatz für das vorgesehene Atomkraftwerk zu besetzen, sobald der Bau begonnen hat.“ Der Staat reagiert prompt: Flugblätter werden beschlagnahmt, Scheunen und Bauernhöfe gefilzt, nachts die Aktivitäten der Anwohner im Licht von Scheinwerfern überwacht. Zum wasserrechtlichen Erörterungstermin marschieren provokativ 300 Polizisten auf, um die Landwirte und Anwohner einzuschüchtern. In einer Nacht-und- Nebel-Aktion ab „null Uhr“ sichern dann am 26. Oktober 1976 massive Polizeieinheiten das Baugelände, ziehen Zäune hoch und umkleiden sie mit Nato-Draht.

Die BUU reagiert mit einem Aufruf zur Demonstration: Vier Tage später, am Samstag, den 30. Oktober, versammeln sich 8000 Menschen zur ersten Kundgebung am Bauplatz. Trotz der Ankündigung einer Besetzung wird die Staatsmacht vom Ideenreichtum der Atomgegner überrascht. Als Transparente getarnte Teppiche fliegen auf die Natodraht-Barrieren und machen sie überwindbar. Zäune werden mit Bolzenschneidern geknackt, mit Bauholz, das von Treckern herangekarrt wurde, wird der Wassergraben vor dem Bauzaun überwunden. 4000 Menschen gelangen, Tränengas-Granaten der NWK-Werksschützer zum Trotz, auf den Bauplatz.

Die Nachrichten von der Platzbesetzung und der Räumung in der folgenden Nacht mobilisieren im Norden die Bevölkerung. Überall setzen sich Menschen zusammen, beraten in Kneipen, Szenetreffs oder auf Veranstaltungen, viele schließen sich zu „Anti-Atom-Inis“ zusammen. Auch für die sogenannten „K-Gruppen“ – Kommunistischer Bund (KB), Kommunistischer Bund Westdeutschland (KBW), Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) – ist der Widerstand gegen die Atomkraft nunmehr zentrales Thema. Innerhalb kurzer Zeit gründen sich allein in Hamburg etwa 60 Initiativen, die sich der BUU anschließen. Gemeinsam bereiten sie die nächste Großaktion am 13. November 1976 in Brokdorf vor.

50.000 Menschen beteiligen sich an diesem zweiten Versuch, den Bauplatz zu besetzen. Es kommt zu einer mehrstündigen Schlacht am Bauzaun, wobei erstmals auch Militanz auf Seiten der Atomkraftgeg-ner kein Tabu ist. Mit Seilen und Menschenkraft werden Leitplanken entfernt, Wasserwerfer gekapert und lahmgelegt, Polizisten mit Matschgeschossen, Steinen und Flaschen beworfen. Die Antwort: Knüppel, Wasserwerfer und Tränengasabwürfe aus Hubschraubern. Einige Polizisten werfen gar Steine aus dem Kraftwerksgelände auf die meist ungeschützten Demonstranten und verletzen mehrere Menschen zum Teil schwer. Aber auch einige Hundertschaften der Polizei verweigern angesichts der Schlachtszenen den Einsatz. Dennoch mißlingt die erneute Besetzung, zu groß ist die polizeiliche Übermacht. Trotzdem zeigt der militante Protest Erfolg: Kurz vor Weihnachten verhängt das Verwaltungsgericht Schleswig einen „vorläufigen Baustopp“ für das Atomkraftwerk Brokdorf.

Obwohl die Vorkommnisse in ganz Deutschland Initialwirkung zeigen, entbrennt innerhalb der BUU eine heftige Kontroverse über den Umgang mit dem Baustopp. Es kommt zur ideologischen Spaltung. Während die „K-Gruppen“-Fraktion am 19. Februar 1977 mit 30.000 Teilnehmern zu einer erneuten Besetzung des Bauplatzes aufbricht, versammeln sich zeitgleich 30.000 Atomgegner in Itzehoe, um durch eine „politische Manifestation“ den Widerstand gegen das Atomprogramm auf eine „breitere Basis“ zu stellen. Den Marsch zum Bauplatz stoppt die Polizei durch Wasserwerfer- und Containersperren im Umkreis. Auf dem Rückmarsch nehmen Spezialeinheiten der Polizei in Wilster sogenannte „Militante“ fest, um anschließend die Anti-Atom-Bewegung insgesamt mit einer Kampagne zu kriminalisieren.

Trotz der Differenzen um den Baustopp geht von der BUU weiterhin bundesweit eine Schubkraft aus. Als einen Monat später 30.000 Atomgegner zum Sturm auf das Atomkraftwerk Grohnde bei Hannover rüsten, herrscht in Hamburg der feste Vorsatz, eine militante Besetzung zu organisieren. Atomgegner, erstmals militärisch ausgestattet mit Helmen, Knüppeln, Schutzkleidung, Gasmasken und Gerätschaften, überwältigen Polizeisperren, räumen Fahrzeugbarrieren beiseite, reißen den Bauzaun nieder, kappen die Wasserzufuhr zum Kraftwerksgelände und legen somit die Wasserwerfer trocken.

Doch die Grohnde-Demo zeigt auch die Grenzen des militanten Widerstands auf. Die einsetzende Debatte um „Widerstandsformen“ führt schließlich zur organisatorischen Spaltung in die „KB-BUU“ und das „BUU-Delegiertenplenum Autonomer Gruppen“.

Trotzdem geht es im praktischen Protest gemeinsam weiter, auch bei der Großdemonstration gegen die Inbetriebnahme des fertiggebauten Brokdorfer Atommeilers im Juni 1986, wenige Wochen nach dem GAU von Tschernobyl.

 Am Montag Teil 2: 1986 – Brokdorf, Tschernobyl und der Hamburger Kessel