„Denken Sie an Monte Christo“

Nachdem 20 Männer fliehen wollten: Von sichtbaren und unsichtbaren Mauern in einem Abschiebeknast und wie manche sich daran den Kopf einrennen  ■ Aus Eisenhüttenstadt Heike Spannagel

Abschiebeknast Eisenhüttenstadt – dicht hinterm Gitter auf dem Flur zum Männertrakt steht eine Gruppe junger Ausländer und blickt nach draußen. Reden darf die Besucherin nicht mit ihnen. Das würde nur die Mißgunst der anderen Häftlinge heraufbeschwören, meint Tanja Neumann, die Leiterin der zentralen Anlaufstelle für Asylbewerber. Statt dessen bittet sie einen Wachmann, uns Geleitschutz zu geben, vorbei an den Häftlingen ans Ende des Flurs ins Zimmer 121.

Der Raum wirkt wie ausgestorben. Sechs Bettgestelle, zerschlissene Matratzen, kahle Wände und nicht die Spur von einem 40 cm tiefen Loch. Es ist bereits wieder zugemauert, die Wand hellgelb überstrichen. Von hier aus wollten 20 Männer kürzlich aus dem Abschiebeknast fliehen. Mit improvisiertem Werkzeug kratzten sie ein Loch in die Wand; kurz vor dem Durchbruch waren die Wachen zur Stelle. Es gab einen großen Tumult, die Häftlinge randalierten, und ein Großaufgebot der Polizei räumte das Stockwerk vorläufig. Längst haben die Häftlinge wieder ihre Zimmer bezogen, fünf vermeintliche Rädelsführer wurden in die JVA Cottbus verlegt.

In die Haftanstalt ist wieder Ruhe eingekehrt. Wie lange wird die anhalten? Wer unternimmt den nächsten Fluchtversuch? „Denkense mal an Monte Christo. Der hat's auch geschafft“, sagt Tanja Neumann. Eine Flucht aus der ohnehin nur provisorischen Abschiebehaftanstalt hält die Beamtin durchaus für möglich.

Weiter verstärken will Neumann die Sicherheit allerdings nicht. In diesem Gebäude sei einfach nichts mehr machbar, zu desolat die Bausubstanz. Was zu DDR- Zeiten eine Wohnbaracke für Bereitschaftspolizisten war, wurde im Sommer 1997 zum vorläufigen Abschiebeknast Eisenhüttenstadt umfunktioniert. Das Konzept für einen neuen Abschiebeknast im Container steht bereits: moderner, größer, sicherer – und zu teuer. Zwischen 3,5 und 12 Millionen Mark soll das Land Brandenburg investieren, eine Summe, die im Haushalt nicht vorgesehen ist. Nach den erneuten Unruhen Anfang Mai habe sich der politische Druck verstärkt, meint Tanja Neumann und hofft, daß sich bald etwas tut.

„Die mußten ihren Frust ablassen“, erklärt sie die jüngste Randale der Häftlinge. Bei einer früheren Revolte im November letzten Jahres sei der Schaden erheblich größer gewesen. Auf engstem Raum leben hier derzeit 47 Männer und 10 Frauen, die auf den Tag ihrer Abschiebung warten. Damit ist der Knast voll ausgebucht. Die Anzahl der Insassen schwankt täglich, noch vor einer Woche waren insgesamt 74 Menschen inhaftiert. Besonders eng ist es im Erdgeschoß, wo die Männer in Sechsbettzimmern untergebracht sind. Dort liegt Weißrusse neben Vietnamese, Algerier neben Türke und Akademiker neben Arbeiter – multikulturelles Zusammenleben ohne Raum für Persönliches, geschweige denn Intimsphäre.

„Für die Menschen ist das eine Extremsituation“, sagt Tanja Neumann, „ich würde da drin verrückt werden.“ Ausgeflippt ist der 30jährige Ahmed B. aus Algerien. In der Nacht zum Mittwoch war er einer der besagten Rädelsführer. Seit dem 21. Dezember saß er in Abschiebehaft. Er sei immer ein vorbildlicher Häftling gewesen, sagt Tanja Neumann. Sie hätte nie gedacht, daß sich ein Mensch so wandeln könne. Dabei gibt es einen simplen Grund für Ahmeds Wandlung: Er hatte von seiner unmittelbar bevorstehenden Abschiebung erfahren – inzwischen ist sie vollzogen worden.

Nicht nur die Häftlinge leiden unter der angespannten Stimmung im Abschiebeknast. Manchmal haben auch die verantwortlichen Beamten mit sich zu kämpfen. „Ich habe die Aufgabe, die Flüchtlinge am Entweichen zu hindern, und das hat Priorität“, sagt Wachschichtleiter Torsten Kühne. Nicht immer halte er sich so konsequent an seine Dienstvorschriften. Des öfteren würden ihn Häftlinge um Hilfe bitten, mit ihm reden und ihre Situation erklärt haben wollen. Da gerät der Beamte Kühne in Gewissenskonflikte. Nicht selten gewinnt der Mensch in ihm Oberhand, und er schlüpft in die Rolle eines Sozialarbeiters. Eigentlich seien die Ausländerbehörden dazu da, den Abschiebehäftlingen beizustehen, auch die Diakonie oder die Flüchtlingsvereine, sagt Torsten Kühne, „die Gesellschaft kümmert sich viel zuwenig um die Leute“.

Daß die Zusammenarbeit mit den Ausländerbehörden schlecht funktioniere, bestätigt seine Chefin Tanja Neumann. Die Abschiebung eines Häftlings verzögere sich so lange, bis ihm die Ausländerbehörde einen Paß beschafft habe. Während die durchschnittliche Verweildauer im Abschiebeknast Eisenhüttenstadt 1997 noch 21 Tage betrug, sind es in diesem Jahr 30 Tage. Paragraph 57 des deutschen Ausländergesetzes sieht vor, daß zur Abschiebung bestimmte Ausländer längstens für zwei Wochen inhaftiert werden sollen. Die Haftzeit kann durch einen Richter verlängert werden – bis auf 18 Monate maximal.

Die Abschiebehaft sei notwendig für Ausländer, die sich illegal ihrer Abschiebung entzogen hätten, meint Tanja Neumann. Allerdings würden sich in Eisenhüttenstadt auch „tatsächliche Schicksale“ abspielen. Dann nämlich, wenn die Einzelfallprüfung durch das Innenministerium mangelhaft oder gar nicht stattgefunden habe und Häftlinge zu Unrecht abgeschoben würden. Schlimmer sei die Situation mit der Verschärfung des Asylgesetzes 1992 geworden, weiß die Behördenleiterin. Seither würden deutlich seltener Asylanträge gestellt, dafür immer mehr illegale Ausländer in Deutschland aufgegriffen – eine Tatsache, die sich in Eisenhüttenstadt widerspiegelt.

Die Anzahl der Abschiebehäftlinge ist angestiegen und wird es nach Ansicht von Tanja Neumann weiter tun. Im neuen Containerknast sind jedenfalls 120 bis 160 Haftplätze vorgesehen. Das sind doppelt so viele wie bislang. Geplant ist auch ein vier Meter hoher Eisenzaun mit Sensorenmeldern rund um die Haftanstalt. An Flucht ist dann bestimmt nicht mehr zu denken.