Fermats letzter Satz

Ein Bestseller beutet die Legenden um die berühmte Vermutung des französischen Mathematikers Pierre de Fermat aus  ■ Von Stefan Löffler

Mathematik kann so romantisch sein. Da kritzelt ein französischer Provinzbeamter im 17. Jahrhundert eine einfache Vermutung an den Rand eines Buches über Arithmetik und fügt schelmisch hinzu: „Ich habe einen wunderbaren Beweis, aber der Rand ist zu schmal, ihn niederzuschreiben.“ Mit seinem Tod wäre das Rätsel (siehe Kasten) in Vergessenheit geraten, hätte sein Sohn es nicht publiziert.

Seitdem versuchten sich Unzählige an dem Beweis: Ein junger Mathematiker schreibt hastig einen wichtigen Beitrag zur Lösung nieder, in jener Nacht, bevor er im Duell getötet wird. Ein Lebensmüder vergrübelt seine letzten Stunden an der Suche nach der Lösung, verpaßt dabei die Stunde, die er sich für seinen Freitod gesetzt hatte, und entscheidet sich, als Stifter eines Preises für den Beweis der Vermutung am Leben zu bleiben. Die Akademie, die seine Auszeichnung vergibt, erhält unzählige Lösungsvorschläge, erst noch höflich formuliert, dann immer barscher und selbstgerechter. So vergehen 324 Jahre, bis ein englischer Mathematiker in achtjähriger Detailarbeit die Vermutung bestätigt und bald darauf den Preis erhält.

Das ist die Legende, aus der der Physiker und Journalist Simon Singh ein in Großbritannien überaus erfolgreiches Buch gestrickt hat und auf die er immer wieder zurückgreift, sobald ihn sein Fachwissen oder seine Recherche im Stich lassen. Die Faszination des sogenannten letzten Satzes des Pierre de Fermat (1601 bis 1665) ist ein Phänomen. Aber das gilt auch für Singhs Bestseller.

Fermats Vermutung gehört zur Zahlentheorie, einem für Amateure faszinierenden Gebiet, das professionellen Mathematikern aber kaum Chancen zur Profilierung bot. Erst durch die Kryptologie, die Ver- und Entschlüsselung von Nachrichten, wurde die Zahlentheorie wieder interessant. Eine praktische Anwendung versprach der Beweis zwar nicht, aber einen Durchbruch für die akademische Mathematik durch die Verknüpfung verschiedener Teilgebiete. Dies allein zu leisten brauchte es aber die Verbissenheit eines Andrew Wiles.

Der Mathematikprofessor in Princeton hatte nur wenige Kollegen eingeweiht, bevor er 1993 auf einer Konferenz in seiner Geburtsstadt Cambridge den Nachweis der sogenannten Taniyama-Shimura- Vermutung führte, die elliptische Gleichungen mit der komplexen Geometrie modularer Formen verknüpft. Wiles brauchte den Namen Fermat nicht zu erwähnen. Die meisten Anwesenden wußten, was der Saarbrücker Mathematiker Gerhard Frey neun Jahre zuvor gezeigt hatte: Galt die Vermutung der beiden Japaner, wäre auch Fermats Satz bewiesen.

Schon am folgenden Tag setzte ein gewaltiger Medienrummel ein. Le Monde und die New York Times meldeten auf der Titelseite, Wiles habe das berühmte Rätsel gelöst. Ein Beweis gilt aber erst, wenn er geprüft und publiziert ist. In diesem Fall war das besonders schwierig, denn Wiles hatte in siebenjähriger Arbeit Teilgebiete der Mathematik verknüpft, die kein Kollege sämtlich beherrschte. Schließlich wurden sechs Teilgutachter bestimmt, um die 200seitige Argumentation zu prüfen. Tatsächlich fand sich ein Irrtum. Wiles brauchte fast ein Jahr, um die Beweiskette zu flicken. Diesmal waren die Gutachter zufrieden.

Im Auftrag der BBC drehte Simon Singh über Wiles und Fermat einen Dokumentarfilm, der mehrfach ausgezeichnet wurde. Zugleich besorgte er sich einen Buchvertrag bei Fourth Estate, dem Verlag, der mit Dava Sobels „Längengrad“ über die Erfindung des Chronometers für die Navigation auf See gerade einen wissenschaftshistorischen Weltbestseller hatte. Die Erwartungen an Singh waren hoch. Zudem hatte er einen Konkurrenten, einen Amerikaner namens Amir Aczel.

Als die beiden Bücher auf englisch erschienen, verglichen die Rezensenten und gaben Singh klar den Vorzug vor Aczel. Das Lob nahm kein Ende. Singh habe die dröge Mathematik glänzend erklärt. Der Münchener Hanser Verlag sicherte sich frühzeitig die Rechte. In der Eile beachtete der Münchener Verlag jedoch nicht weiter, daß der Übersetzer Singhs spannenden, aber euphorischen Erzählstil in eine ziemliche Übertreiberei verwandelt hat.

Weder Lektoren noch Rezensenten stießen sich an der Oberflächlichkeit des Buches. Singh gelingt es zwar, ein Gefühl für die Komplexität der Beweisführung zu vermitteln. Die Details wären Lesern mit Schulmathematik ohnehin nicht begreiflich zu machen. Doch er wagt keine Kritik an einem Mathematiker, der über Nacht berühmt werden wollte und dafür sieben Jahre lang Erkenntnisse geheim hielt, die seine Kollegen auf anderen Feldern hätten voranbringen können. Wiles' Verstoß gegen das akademische Ethos wird von Singh nicht mal erwogen.

Ein weiteres Versäumnis wiegt aber schwerer. Seine Recherche erschöpft sich neben Interviews mit Wiles und einigen seiner Kollegen in der Lektüre populärer Sachbücher. Legenden hinterfragt er nicht. Er nimmt sie begierig auf. Was nicht in seine romantische Version paßt, ignoriert Singh.

Zwanzig Jahre vor Wiles hatte Fermat schon einmal einen Forscher in Princeton beschäftigt. Michael Mahoney, ein Schüler des bekannten Wissenschaftshistorikers Thomas Kuhn, schrieb dort eine ausführliche Biographie des Pierre de Fermat. Singh nennt das Buch im Anhang. Hätte er es gelesen, wären dem Leser einige Fehler erspart geblieben. Er hat es aber wohl selbst schnell beiseite gelegt, denn Mahoney hatte Fermats bedeutsamere Leistungen in Geometrie und Wahrscheinlichkeitsrechnung ausführlich behandelt und den die Amateure faszinierenden „letzten Satz“ nur kurz.

Laut Singh habe Fermat keinen Mentor gehabt. Seine wichtigste Inspiration sei eine Kopie von Diophantos' „Arithmetica“ gewesen. Dramaturgisch wäre das schön. Ist es doch das Buch, auf dessen Rand er seine Vermutung niederschrieb. Der freilich ungleich wichtigere Einfluß der Schule des heute vergessenen Mathematikers Vite bleibt unerwähnt. Singh behauptet auch, Fermat habe über seine Forschungen nur mit zwei Zeitgenossen korrespondiert. Tatsächlich waren es viel mehr. Und daß er keine Aufsätze publizierte, lag nicht an einem geheimniskrämerischen Zeitgeist, wie Singh glauben machen will. Fermat fehlten, neben seiner Tätigkeit als Richter, schlicht Lust und Zeit, seine Ergebnisse detailliert auszubreiten.

Die Ironie an der ganzen Geschichte: Am Ende sind drei Männer für etwas anderes berühmt geworden, als sie eigentlich geleistet haben: Fermat für eine These, die mit seinen eigentlichen Beiträgen zur Mathematik nichts zu tun hat, Wiles für ein – freilich beabsichtigtes – Nebenprodukt seiner Forschung und Singh, der seine Legenden als Geschichte verkauft.

Simon Singh: Fermats letzter Satz – Die abenteuerliche Geschichte eines mathematischen Rätsels. Carl Hanser Verlag, München 1998, 364 Seiten, 49,80 Mark