■ Pakistan hat sich gestern als siebte Atommacht geoutet
: Das Versagen der virtuellen Diplomatie

In Südasien gibt es einen Atomwaffenwettlauf. Es gibt viele Gründe, dies zu bedauern und zu verurteilen, Sanktionen zu verhängen und Untersuchungen einzuleiten, wer alles dazu beigetragen hat, daß Indien und Pakistan über nukleare Sprengsätze und Trägersysteme verfügen. Ein gutes Dutzend Regierungen, von Kanada, den Niederlanden bis China und Nord- Korea, können neben den neuen Atommächten auf der Anklagebank Platz nehmen. Ebenso eine kleine, aber feine Gruppe von High-Tech-Firmen, die Milliarden an diesem Technologietransfer verdient haben.

Viel dringender jedoch ist die Frage, wie mit den neuen, das heißt endlich publik gemachten Realitäten umzugehen ist. Das einzig Positive an den Entwicklungen der letzten Wochen ist, daß die Voodoo-Diplomatie mit ihrer virtuellen Trennungslinie zwischen offiziellen und inoffziellen Nuklearmächten sich spätestens seit zwei Wochen als unhaltbar erwiesen hat. Daß es dazu der Gefahr eines nuklearen Konflikts in Südasien bedarf, ist der x-te Beweis der Nichtexistenz einer wie auch immer gearteten „Weltordnung“.

Die einzige Basis für eine erfolgversprechende Gefahreneindämmung ist die Akzeptanz der Realitäten. Das klinkt so banal, wie es revolutionär ist.

Es hatte in einer bipolaren Welt nach 1945 ein Vierteljahrhundert gedauert, bis die USA und die UdSSR angefangen haben, ein keineswegs sicheres Netz von Kontroll- und Abrüstungsverträgen zu konstruieren. Alle acht real existierenden Nuklearmächte (also auch Israel) müssen sich jetzt der Aufgabe stellen, ein gänzlich neues Regelwerk auszuhandeln. Die sich überstürzenden Ereignisse in Südasien illustrieren, wie wenig Zeit der internationalen Gemeinschaft nach dem langen diplomatischen Winterschlaf geblieben ist.

Vorrangig ist jetzt die direkte Konfliktbeherrschung: Indien und Pakistan leben seit 50 Jahren mit einer ungeklärten Grenzfrage und permanenten Provokationen und Übergriffen. Jeder der vielen kleinen Schritte auf dem Weg zur einsatzfähigen Rakete mit Nuklearsprengkopf kann von der gegnerischen Seite zur kriegsauslösenden Bedrohung erklärt werden.

Damit ist die Welt einem nuklearen Holocaust so nahe gekommen wie nie zuvor seit der kubanischen Raketenkrise 1961. Viele der führenden Militärexperten haben eine einfache Antwort auf die Frage, warum die nukleare Abschreckungsstrategie den ganzen Kalten Krieg durch funktioniert hat: „Pures Glück.“ Andrea Goldberg