■ Heute hebt der Bundestag die Nazi-Urteile in Sachen Zwangssterilisation auf. Ein richtiger Schritt. Aber kein ausreichender
: Nur Vergangenheitsbewältigung?

Dürfen geistig Behinderte, Alkoholkranke oder Blinde Kinder zeugen, obwohl sie diese nicht versorgen können? Das von den Nazis am 14. Juli 1933 verabschiedete „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ hatte eine eindeutige Antwort parat: „Schwachsinnige“, depressive oder suchtkranke Menschen seien auch gegen ihren Willen unfruchtbar zu machen. „Erbgesundheitsgerichte“ stuften auf dieser Grundlage in den Folgejahren 350.000 Frauen, Männer und Kinder als „rassisch minderwertig“ ein. Bei den brutal erzwungenen Sterilisationen starben 6.500 Menschen. Obwohl dies offensichtlich Unrecht war, gelten die Entscheidungen der Erbgesundheitsgerichte bis heute fort. Nun hebt der Bundestag die Urteile auf.

Bislang war dies an CDU/CSU gescheitert. Wie wollten sie die NS-Zwangssterilisation als Unrecht brandmarken, wo sie doch selber die rechtliche Möglichkeit einer Sterilisation von Personen ohne deren Einwilligung durchsetzten? Zudem hätte eine Anerkennung als NS-Verfolgte Entschädigungszahlungen zur Folge gehabt. Man speiste diese Menschen bislang mit einer Monatsrente von hundert Mark ab.

Erst in den letzten Jahren setzte sich eine neue Auffassung durch. Nunmehr gelten dem Bundestag Zwangssterilisationen als „Ausdruck der zu ächtenden nationalsozialistischen Auffassung vom lebensunwerten Leben“. Doch das frühere Argument von CDU/CSU bleibt bedenkenswert: Zwangssterilisationen waren kein nationalsozialistisches Spezifikum. Denn die aktuelle Historisierung dieser Praktiken zum NS-Unrecht verleugnet, daß die sozialpsychologische Basis der Eugenik keineswegs der Vergangenheit angehört. Noch immer existiert ein kollektiver Widerwille gegen Behinderte und „Nichtsnützige“. Hinter vorgehaltener Hand ist die Mehrheit noch immer überzeugt, daß „Asoziale“ und Behinderte keine Kinder bekommen sollten.

Wie das Nein zu Todesstrafe und aktiver Sterbehilfe ist auch die Absage an die Zwangssterilisation eine Willensbekundung der politischen Eliten, die vor allem durch die NS-Greuel motiviert ist. Ein entsprechendes, gefestigtes Rechtsempfinden in der Bevölkerung gibt es indes nicht. Die meisten Menschen hegen eine generelle Abneigung gegen Kranke und Behinderte, weil der Anblick von Behinderung und Entstellung an die eigene, im Alltag verdrängte Verletzbarkeit und Vergänglichkeit erinnert.

Diese Abwehrhaltung verschärft sich in der Industriegesellschaft. In vorindustriellen Gesellschaften blieben Behinderte in die Großfamilie integriert und konnten mit leichteren Arbeiten zum Familieneinkommen beitragen. Die Kleinfamilie der Industriearbeiterschaft hingegen kannte keine Nischen für Behinderte – sie war darauf angewiesen, daß alle Familienmitglieder arbeitstauglich waren. Totale Verelendung oder Kasernierung in Heil- und Pflegeanstalten waren die Folgen. Und die Rede von den „unnützen Essern“ entstand.

Auf diesem geistigen Bodensatz baute nicht nur die NS-Eugenik auf. Schon in der Weimarer Republik setzten sich neben den Rechtsparteien auch Teile der Sozialdemokratie für eine Sterilisation erblich „Minderwertiger“ ein. Eine zusätzliche Antriebsfeder für diese sozialistische Eugenik war der linke Fortschrittsglaube, der die endgültige Abschaffung von Mühsal und Leid als Utopie entwickelte. Behinderte und chronisch Kranke hatten in dieser Vision keinen Platz. Entsprechend konnten sich die Nazis mit ihrem Erbgesundheitsgesetz auf einen preußischen Gesetzentwurf von 1932 beziehen.

Auch in demokratischen Ländern waren Zwangssterilisationen über Jahrzehnte hinweg gängige Praxis. In Schweden blieben sie bis 1976 legal. Über 60.000 Menschen – meist Frauen aus unteren Sozialschichten – wurden dort ohne Einverständnis unfruchtbar gemacht. Es traf „Gewohnheitskriminelle“, ledige Mütter mit mehreren Kinder und als sexuell frühreif eingestufte Jugendliche. Selbst bei „unverkennbaren Zigeunergesichtszügen“ konnte die Sterilisation angeordnet werden. Ähnlich ging es in Teilen der USA, in Dänemark, Norwegen und Finnland zu. In Österreich findet noch heute die Sterilisation geistig Behinderter in einer rechtlichen Grauzone statt, bei Jugendlichen kann allein aufgrund elterlicher Einwilligung eine Unfruchtbarmachung erfolgen.

Auch hierzulande wurden bis in die neunziger Jahre jährlich rund 1.000 behinderte Frauen meist kurz vor Erreichen der Volljährigkeit ohne ihr Einverständnis sterilisiert. Dies ist mit dem jetzt geltenden Betreuungsrecht nicht mehr möglich. Erkauft wurde dies aber mit einer juristischen Rückkehr des Konzepts der Zwangssterilisation. Zwar darf nicht gegen den erklärten Willen, aber doch ohne die Zustimmung „nichteinwilligungsfähiger“ Personen eine Sterilisation vorgenommen werden. Verstärkt hat sich in den letzten Jahren auch die Tendenz, ein Einverständnis der Behinderten in die Sterilisation zu unterstellen, ohne zu prüfen, ob diese die Auswirkungen des Eingriffs tatsächlich verstehen.

Man mag einwenden, daß die heute in Deutschland geltende Regelung zumindest den Versuch einer schwierigen Gratwanderung unternimmt: Hier die Wahrung der Integrität behinderter Menschen, dort das Leid, das eine Abtreibung oder eine womöglich unvermeidliche Trennung von Eltern und Kindern mit sich bringt. Die aktuelle Praxis ist daher keinesfalls in einem Atemzug mit den NS- Zwangssterilisationen zu nennen. Denn die NS-Sterilisationspolitik, die alle treffen konnte, die ein sozial unerwünschtes Verhalten zeigten, setzte die destruktiven Impulse weiter Teile der Bevölkerung direkt um.

Eine politische Zivilisierung dieses aggressiven Potentials ist möglich – und zwar genauso, wie im individuellen Kontakt die Chance besteht, die Person hinter der Behinderung oder hinter der Fassade auffälligen Verhaltens zu entdecken. Beides ist eine Aufgabe, die nie abgeschlossen ist. Weil Behindertenfeindlichkeit nicht nur ein Problem der anderen ist, müßte jede Politik auch die entsprechenden Tendenzen im eigenen Milieu thematisieren. Wo Zwangssterilisationen und andere Gewaltausbrüche gegen Behinderte hingegen auf ein Problem der NS-Epoche reduziert werden, droht ein Kurzschluß. Man bannt das Böse im Historischen und ist es scheinbar los. Das politische Bekenntnis gegen NS-Unrecht mißrät so zu einer Strategie, um die fortbestehenden aggressiven Impulse zu verleugnen. Harry Kunz