Vollkommen von der Leine

■ Die "Geister" drängen wieder hervor in Kopenhagens Reichshospital. Noch gruseliger, noch bizarrer durchmißt Lars von Trier Himmel und Hölle in der zweiten Staffel (Sa., 22.45 Uhr, arte)

Was würden Sie denken, wenn Sie hörten, Professor Helmer sei aus Haiti zurückgekehrt? Oder Judith habe entbunden? Wie würden Sie reagieren, wenn Sie erführen, daß im „Kingdom“ die Geister doch noch keine Ruhe geben? Nun, sie wären wohl sehr neugierig, wenn auch Sie einmal von dem Treiben im Kopenhagener Reichshospital infiziert wurden. Und wenn Sie am Ende von „Geister“ auch so ungläubig auf den Schriftzug „To Be continued“ starrten, so haben Sie es jetzt schwarz auf weiß. Ihre Lieblingsserie wird tatsächlich fortgesetzt.

1995 strahlte arte zum erstenmal den sarkastischen Krankenhausspuk „Geister“ des Dänen Lars von Trier aus. Der Fünfteiler, in Dänemark ein Straßenfeger, scharte auch hier eine Fangemeinde um sich – etwas kleiner vielleicht, aber kaum weniger bedingungslos. Dabei war man damals vom Publikumsappeal beim koproduzierenden WDR nicht überzeugt und versendete nach der Erstausstrahlung bei arte, die auch lange auf sich warten ließ, die Serie lustlos im Dritten. An der zweiten Staffel ist der WDR nun auch gar nicht mehr beteiligt, wohl aber die Straßburger. Das ist ihnen zu danken, denn die Fortsetzung macht dem Vorgänger alle Ehre und gehört zu den Filmen, bei denen man sich nicht vorstellen kann, wie man ohne sie auskommen könnte.

Dabei war die erste Staffel – glaubt man Lars von Trier – nur als Fingerübung geplant, eine rein kommerzielle Arbeit fürs Fernsehen. Understatement oder nicht, ein Übungsstück ist wahrlich nicht dabei herausgekommen. Inspirieren ließ von Trier sich dabei vor allem von David Lynchs „Twin Peaks“ und Barry Levinsons „Homicide“ (läuft derzeit auf Vox) und vermischte beider Serien Vorzüge aufs trefflichste. Von „Twin Peaks“ rührt das Konzept, den Zuschauer über den wahren Charakter der Figuren gezielt im unklaren zu lassen und immer neue Facetten zu entblößen. „Homicide“ ist die Ästhetik entliehen. Handkamera und regelwidriger Schnitt lassen einen irritierenden Eindruck von Nähe entstehen.

Der besondere Dreh an „Geister“ aber war es, in einem recht nüchternen Setting, dem Kopenhagener Reichshospital, eine Geistergeschichte zu erzählen. Folge für Folge betont der Vorspann, den Gegensatz zwischen der anmaßenden Wissenschaft und der ununterdrückbaren spirituellen Welt. Mit großem Genuß wird Stück für Stück dann der scheinbar geordnete Krankenhausbetrieb enttarnt. Hierarchien brechen zusammen. Chefärzte sind inkompetent und eitel und versammeln sich zu bizarren Ritualen in einer Geheimloge, grausige Verbrechen drängen aus der Vergangenheit hervor. Der geringste Teil der Aktivitäten entfällt auf die Heilung von Patienten. Die romantischen Heilsbringer aus dem „Emergency Room“ würden sich die Augen reiben.

Im ersten Teil gelang es von Trier, Grusel und Komik gerade aus der Nähe zur Normalität zu entwickeln und mit langem Atem die Geschichte einem so absurden Höhepunkt zuzutreiben, daß sie kaum noch weiterzuspinnen schien. Schließlich lugt zuletzt ausgerechnet Udo Kiers Kopf schreiend aus Mutters Vagina. Wir normal Fantasiebegabten sind überfordert, werden wir mit solch einem Bild zurückgelassen. Da mutet die Fortsetzungsankündigung beinahe wie reiner Hohn an.

Das kaum Mögliche findet statt. „Geister II“ erzählt einfach weiter, wo „Geister“ aufhörte (Einstiegswillige sollten sich davon keinesfalls schrecken lassen). Goldrichtig ist der Weg, den Lars von Trier sich durch die maroden Krankenhausflure bahnt. Er verabschiedet sich von der Wahrscheinlichkeit und verläßt sich ganz darauf, daß man den so vertrauten wie mysteriösen Figuren schon überall hin folgen wird. Die Realität hat als Trittleiter ausgedient, jetzt öffnen sich Keller unter Kellern und heben die Figuren ab in höchste Höhen, wo sie nur noch die Geister vor dem Absturz bewahren können. Himmel und Hölle sind kaum noch Ahnungen, sie werden mit größter Selbstverständlichkeit ausgemessen. Das Vakuum, das dadurch entsteht, daß der Mikrokosmos Krankenhaus hinreichend etabliert ist, füllt von Trier mit noch bizarreren Situationen und vor allem mit mehr Horror. Die Erzählung ist vollkommen von der Leine gelassen. Alles ist möglich.

Ja, liebe Süchtige, Sie werden nicht enttäuscht werden. Sie freuen sich auf den schwedischen Dänemarkhasser Professor Helmer? Mit Recht. Sie fragen sich, was er mit seinen frisch erworbenen Voodookenntnissen anstellen wird? Sie dürfen gespannt sein. Sie rätseln über Professor Moesgaards Geisteszustand? Ihnen wird Aufschluß gewährt. Sie wollen wissen, wann der ganze Spuk ein Ende hat? Nun, wer weiß. Sven Sonne

Heute und an den fünf kommenden Samstagen, um ca. 22.30 bei arte