Verfügbare Sexualität

■ Die Potenzpille Viagra schlägt ein wie eine Bombe. Nach wenigen Tagen nur war sie Marktführer bei den Erektionshilfen. Mehr als 600.000 Männer griffen bereits zu der rautenförmigen Sexdroge. Ein ewiger Männertraum scheint in Erfüllung zu gehen: Der Phallus möge immer funktionieren. „Die Potenzpille ist nur der erste Schritt“, sagt der Hamburger Sexualforscher Gunter Schmidt. In den USA wird bereits an weiteren Substanzen geforscht, die das sexuelle Leben beeinflussen sollen

taz: Bislang hat kaum ein Medikament für soviel Wirbel gesorgt wie die Potenzpille Viagra. Medien jubeln über den besten Freund des Mannes, Frauenrechtlerinnen befürchten die Rückkehr der Machos. Woher diese Euphorie, woher diese Hysterie?

Gunter Schmidt: Alle Potenzängste, wird uns verheißen, sind nun gebannt. Das löst jungenhaften Jubel aus, weltweit, bei Männern. Hier werden massiv Phantasien produziert. Das ist nicht nur ein Medikament – das ist eine Droge für den Mann. Und der Absatz dieser Pille wird weit über die klinischen Fälle von Impotenz hinausgehen.

Was sind das für Phantasien?

Der Traum des von der Seele befreiten Phallus. Der arbeitet und steht – unabhängig von Gefühl, Stimmung, Situation. Ob der Partner geliebt wird oder nicht. Ob Sehnsucht da ist oder nicht. Ob er einem nah oder gleichgültig ist. Der Phallus muß funktionieren. Und erst wer ihn von Liebe und Gefühl befreit, ist ein richtiger Mann.

Sehr traditionell.

Und wie! Jüngeren, weniger traditionellen Männern ist diese Vorstellung vermutlich schon fremd. Da gilt es als ein Zeichen von Sensibilität, in bestimmten Situationen nicht zu können. Weil sie gekränkt sind, keine Liebe verspüren und so weiter.

Wer wird Ihrer Ansicht nach zu der Potenzpille Viagra greifen?

Viele, die diese Pille eigentlich gar nicht brauchen. Das Medikament wird zur Droge, mit der sich Potenzängste beschwichtigen lassen. Das wird erlebt wie ein Bad im Drachenblut, das den Mann unverwundbar macht. Vielleicht glaubt er, daß die Pille die Wunden heilen kann, die der Feminismus geschlagen hat. Denn gerade ältere oder traditionellere Männer sind durch das Infragestellen der herkömmlichen männlichen Sexualität verunsichert.

Dennoch würde vieles leichter.

Ja, denn die Pille wirkt offenbar bei einigen Formen organisch bedingter Impotenz, etwa infolge von Rückenmarkschäden oder Diabetes. Paradoxerweise nimmt die Pille auch einen Teil der Medikalisierung der Impotenz zurück. Die Männer müssen nicht mehr zu Urologen, die zum Teil eine langwierige und schreckliche Diagnostik mit ihnen machen, sondern gehen einfach zum Hausarzt. Der drückt ihnen die Pille in die Hand, guckt nur, ob es vielleicht irgendwelche Gegenanzeigen gibt, und der Mann probiert's.

Würden Sie die Potenzpille jemandem verweigern?

Ich gönne die Pille jedem. Sollen die Männer doch machen, was sie wollen. Wer meint, daß das den Zauber seiner Sexualität erhöht, wird es ausprobieren – und vielleicht zu viagrafreiem Sex als besonderer Köstlichkeit zurückkehren.

Was ist mit den Partnern?

Es wird zu interessanten Konflikten kommen. Denn gerade die entseelte Sexualität hängt den Frauen ja bereits zum Halse raus. Diese Pille hilft nun wirklich nicht, daß Männer besser zuhören, bessere Liebhaber, erotischer, betörender, phantasievoller werden.

Also zurück zum Machismo?

Die Pille ist in gewisser Weise ein Rückschritt, weil sie das traditionelle Sexualbild bestärkt. Weil sie ältere Paare, bei denen die Frau vielleicht gar nicht so ungern von der Sexualität Abschied genommen hat, erneut unter Druck setzt. Vielleicht sind beide aber auch begeistert.

Also doch ein Fortschritt?

Diese Pille ist auch etwas Ultramodernes. Sie ist ein Schritt zum designten Sex – berechenbar, planbar, optimiert.

Der garantierte Sex?

Ja, und Viagra wird nur der erste Schritt sein. In den USA wird bereits an fünf anderen Substanzen geforscht, die das sexuelle Leben beeinflussen, und deren Entwicklung mit dem an Viagra verdienten Geld gepusht wird.

Was sind das für Stoffe?

Wer weiß, was da designt wird – vielleicht besonders intensive und lange Orgasmen, nicht enden wollende Erregbarkeit oder versunkene Innigkeit, was auch immer.

Je nach Gusto?

Designter Sex aus designten Drogen, die verfügbare Sexualität.

Und die Konflikte würden zugeschüttet.

Das ist richtig. Zumal die Pille angeblich hochwirksam bei psychogener Impotenz ist. Nun gibt es ganz oberflächliche Gründe für seelische Impotenz, wie die Angst vorm Versagen. In diesen Fällen kann ein Medikament durchaus helfen. Doch es gibt auch tiefergehende Konflikte. Etwa wenn der Mann sich mit seiner Impotenz von Partner oder Partnerin aggressiv abgrenzt.

Was wird die Pille dann bewirken?

Die Frage ist, was wird mit dem Konflikt geschehen, der hinter der Impotenz steht, wenn man das Symptom kuriert. Eventuell wird der Mann – so wie er es vorher mit der Impotenz gemacht hat – sich nun den Partner mit der Erektion vom Leibe halten. Der Phallus als Distanzwaffe. Und den Partner herzlos und wenig liebevoll mit seinem Phallus traktieren, nur noch an sein wunderschönes nembrum virile denken und die Partnerin zur Kulisse machen. Vielleicht werden Paare aber auch kreativ mit der neuen Situation umgehen.

Sind die Warnungen der Psychotherapeuten übertrieben?

Auch Psychotherapeuten sind Lobbyisten und verkaufen ihre Ahnungen als Gewißheiten, ihre Interessen als Fürsorge.

Der Hersteller sagt, Viagra steigert nicht die Lust.

Natürlich ist es auch ein Aphrodisiakum. Nicht in dem Sinne, daß es den Trieb – den es ja ohnehin nicht gibt – steigert. Sexuelles Verlangen ist komplex. Das wichtigste für die meisten Männer ist nun einmal das stolze Präsentieren und lustvolle Zelebrieren ihrer Erektion. Und je schneller und doller und dauerhafter, desto mehr Lust werden sie auch haben.

Eine Art Wechselbeziehung?

Ja. Es stärkt die selbstbezogene, eitle Seite der Lust. Etwas, was Frauen eher nervt.

Es gibt Überlegungen, Viagra bei Frauen auszuprobieren.

Auch bei Frauen gibt es Genitalregionen, die anschwellen, vielleicht auch durch Viagra, doch diese Reaktionen haben nicht die symbolische Aufladung wie beim Mann. Von Frauen, die mit Stolz über Klitorisreaktionen berichten, hat man noch nichts gehört.

Stehen Frauen mehr zu ihrer natürlichen Sexualität?

Frauen sind weniger bereit, ihre Sexualität chemisch zu bedienen. Die haben andere Aphrodisiaka: Intimität, Nähe, Phantasie und vieles mehr.

Bedeutet die Einführung der Potenzpille Sex auf Rezept?

Die Krankenkassen werden die Pille bei Impotenz Männern bezahlen müssen – also das Medikament, nicht die Droge. Die Droge sollen Männer selbst bezahlen, schließlich kauft ihnen auch keiner Speed oder Zigaretten. Zumal die Pille in Deutschland zwanzig bis dreißig Mark kosten soll. Pikanterweise wird der eheliche – oder nichteheliche – Koitus dann in etwa so teuer wie die billigste Verrichtung auf dem Hamburger Straßenstrich. Interview: Uta Andresen