Das pakistanische Atom-Dilemma

Wie in Indien ist auch im Nachbarland die nukleare Option populär. Doch Sanktionen würden den US-Verbündeten weitaus härter treffen. Eine Delegation aus Washington macht Druck in Islamabad  ■ Aus Delhi Bernard Imhasly

Nach den indischen Atomtests richtet sich die internationale Aufmerksamkeit nun auf Pakistan. Seit seiner blutigen Ablösung von Indien vor fünfzig Jahren ist dessen Politik ein Spiegelbild des verhaßten Bruderstaats. Als Indien 1974 seine erste Bombe zündete, schwor der damalige Regierungschef Zulfiqar Ali Bhutto vor dem Parlament, Pakistan werde seine Atombombe haben, selbst wenn es dafür Gras essen müsse. Der Ausspruch steht am Anfang des pakistanischen Atomwaffenprogramms.

Beide Länder hatten ihren Militärapparat schon zuvor in strenger Symmetrie hochgerüstet und drei Kriege gegeneinander geführt. Nur der konstante Druck der USA hat Pakistan bisher davon abgehalten, mit Indien atomar gleichzuziehen. Mit den fünf indischen Tests sieht die Regierung in Islamabad keinen Grund mehr zur Zurückhaltung. Außenminister Gohar Ayub Khan nannte sie einen Akt „knapp vor der Kriegserklärung“.

Das Dilemma der Regierung ist groß. Auf der einen Seite steht der Druck der USA, die mit Zuckerbrot und Peitsche ihren Verbündeten davon abhalten wollen, es dem ungebärdigen Nachbarn gleichzutun. Auf der anderen Seite steht die politisch-militärische Elite, deren Raison d'ětre die Rivalität mit dem Bruderstaat ist. In den Kulissen steht zudem Benazir Bhutto, die nur auf eine Schwäche ihres Erzfeindes, des Regierungschefs Nawaz Sharif, wartet, um sich als eiserne Lady anzubieten. Und schließlich sind nach einer Umfrage der Zeitschrift Herald vom August letzten Jahres 84 Prozent aller Pakistaner für eine Beibehaltung der „nuklearen Option“.

Dies ist der Grund, warum Sharif US-Präsident Bill Clinton keine Zusicherungen machte, als dieser ihm am Mittwoch in einem Telefongespräch dringend von einem Atomtest abriet. Inzwischen haben die USA ihren Einsatz erhöht. Als Ouvertüre ließen sie die Nachricht an die New York Times durchsickern, in der Wüste von Baluchistan gäbe es verdächtige Bewegungen, die einen pakistanischen Atomtest bereits am Sonntag als möglich erscheinen ließen. Es war der Einsatz für das Orchester internationaler Stimmen, Pakistan vor einem solchen Schritt zu warnen. Eine hochrangige US-Delegation unter Leitung des stellvertretenden Staatssekretärs Strobe Talbott kam gestern in Islamabad an. Es wird vermutet, daß sie Pakistan eine ganze Reihe wirtschaftlicher und militärischer Geschenke anbieten wird.

Um dies zu unterstreichen, laufen in Washington Vorbereitungen, um Pakistan aus der Zwangsjacke des „Pressler-Amendment“ zu befreien. Dieser Zusatz zum Auslandshilfegesetz verbietet es den USA, militärische und zivile Entwicklungshilfe an ein Land zu leisten, das ein geheimes Atomwaffenprogramm verfolgt. Seit 1990 ist Pakistan in dieser Falle gefangen, trotz der Versuche des Weißen Hauses, den Kongreß zur Aufhebung dieser Bestrafung ihres engen Verbündeten zu bewegen. Nun hat der Kongreß selbst erste Schritte unternommen, um die Regelung für Pakistan zu lockern, falls die Regierung sich verpflichtet, keine Atomtests durchzuführen.

Noch stärker als das Zuckerbrot wird aber die Peitsche sein, die Strobe Talbott in Islamabad schwingen wird. Falls Islamabad seine Bombe zündet, warten auf Pakistan schwere Wirtschaftssanktionen, die das Land ungleich härter treffen würden als Indien. Im Gegensatz zu diesem ist Pakistan stark vom Ausland abhängig, und es steckt in einer Wirtschaftskrise. Islamabad kann seine internationalen Schuldenzahlungen nur dank eines großen Stützkredits des IWF aufrechterhalten. Angesichts seines riesigen Militärhaushalts kann es zudem zahlreiche Infrastrukturprogramme nur mit Hilfe der Weltbank und von Industrieländern wie Japan durchführen. Ein Wirtschaftsboykott könnte das Land an den Rand der Zahlungskrise bringen. Doch die Alternative – ein möglicher Sturz der Regierung – ist für Nawaz Sharif ebenso wenig einladend.