Es waren die Nerven

Der Krieg als verbotene Nervenkur. Als die Neurasthenie von der Krankheit zum Gesellschaftszustand mutierte. Joachim Radkau hat das „Zeitalter der Nervosität“ untersucht. Was das Kaiserreich in den Weltkrieg trieb – eine semantische Feldforschung  ■ Von Katharina Rutschky

Die Untersuchung des Bielefelder Historikers Joachim Radkau hätte das Zeug zu einem veritablen Knüller, wenn der Forscher neben seinem originellen Temperament auch noch wenigstens über ein Gran Eitelkeit und Stilwillen verfügte. Tut er aber nicht, und so muß der Leser ganz allein von Oase zu Oase durch eine endlose Bleiwüste pilgern. Ein deutscher Professor hat es offenbar immer noch nicht nötig, um Zeit und Aufmerksamkeit seiner Leser zu werben. Der Bielefelder Experte für Technikgeschichte scheint ein selbständiger, sogar ein wenig eigenbrötlerischer Kopf zu sein, so daß die Frage, was hier eigentlich schiefgelaufen ist, sich um so dringender stellt.

Läßt man die Hypothese einmal beiseite, der Autor sei gescheitert, weil er als Kind traumatisiert worden ist, bleibt die andere, daß er am Computer sein Werk weniger geschrieben, als mit irgendeinem Softwareprogramm collagiert hat. Vermutlich ist der Apparat der Entwicklung einer Gestaltphantasie nicht förderlich, weil eine erstaunliche Technik die Mühen um Schönheit und Prägnanz zu ersparen verspricht. So wie Film und Fernsehen die Literatur und manche Schriftsteller auf die Probe stellen, so beide außerdem, zuzüglich von PC und Internet, das wissenschaftliche Sachbuch.

Ich stelle die harsche Kritik an Joachim Radkaus Untersuchung zum „Zeitalter der Nervosität – Deutschland zwischen Bismarck und Hitler“ betitelt, an den Anfang, damit der Leser und Käufer auf die Strapazen der Lektüre richtig vorbereitet ist und sich von ihnen nicht schrecken und von meiner Begeisterung nicht irritieren läßt. Sie hat sich auch erst Tage später eingestellt, nachdem die Wut über die plappernde Formlosigkeit verraucht war und die Einsichten langsam niedersanken. Hat man einen gewissen Abstand vom Text gewonnen, begreift man plötzlich, welche originelle, dabei zeitgemäße Deutung des Wilhelminischen Kaiserreichs, des Weltkriegs und der allgemeinen Begeisterung für ihn von Radkau erarbeitet worden ist. Die Geschichtsschreibung lehrt ja nicht, wie es eigentlich gewesen ist – obwohl die Idee der absoluten Objektivität als Korrektiv immer nützlich ist –, sondern sie spiegelt die Gegenwart in der Vergangenheit. Mit dem Blick in die Geschichte kratzt Radkau an zahllosen Konventionen, die uns lieb und teuer sind.

In seinen Blick gerät die ganze wilhelminische Gesellschaft, nicht weil sie deutsch und einem nationalen Schicksal ausgeliefert war, sondern weil sie es mit den Nerven hatte. Mit diesem Problem bekommt man Kaiser Wilhelm II., aber auch August Bebel, außerdem Männer und Frauen, Arbeiter, Unternehmer sowie Professor Max Weber unter einen Hut. Sogar Adolf Hitler paßt noch darunter. Viele Jahre war Max Weber, der berühmte Soziologe, wegen seiner schwachen Nerven vom Dienst am Katheder beurlaubt. Erst nach Kriegsende war er imstande, seine Lehrtätigkeit in München statt in Heidelberg wieder aufzunehmen. Hitler war ein labiler, nervenschwacher Mensch, ehe die Erfahrung des Kriegs ihn stärkte und stählte. So behauptet er jedenfalls in seinem Bestseller „Mein Kampf“.

Radkau findet seine Antworten auf die schmerzlichsten Fragen der neueren deutschen Geschichte beim Beackern eines Feldes, in dem ziemlich harmlos, wenn auch pittoresk die Worte Nerven, Nervosität und Neurasthenie wie Findlinge herumliegen. Es war eine nervöse, nervlich gespannte und reizbare Gesellschaft, die ungeachtet ihrer politischen und ökonomischen Entwicklungschancen, auch ihres längst gesicherten zivilisatorischen Niveaus, den Krieg wie einen Befreiungsschlag, wie eine gebotene Nervenkur empfand und ihn deshalb fast einstimmig begrüßte. Der später so oft erörterte Skandal, daß die ganze Crème der litararischen und künstlerischen Intelligenz 1914 dem nationalen Taumel erlag, läßt sich mit Radkaus Nervengeschichte besser verstehen als vorher. Alle, auch die modernsten und avanciertesten Vertreter des Geistes, verabscheuten in der einen oder anderen Weise den hedonistischen Liberalismus ihrer Zeit, mißtrauten dem Komfort und den Errungenschaften des technischen Fortschritts, der das Leben – wie man dachte – nicht leichter machte, sondern verweichlichte. Das Bewußtsein der Dekadenz im kulturellen, der Degeneration im biologischen System war weit verbreitet und verführte auch die Kritiker des Wilhelminischen Reichs endlich dazu, im Krieg nicht die Katastrophe, sondern einen Anfang zu sehen.

Weil alle Kinder einen Namen haben müssen, heißt Radkaus Studie ein Beitrag zur Mentalitätsgeschichte. Bekannt ist er als Experte für Technikgeschichte, er räumt aber ein, zur Nervosität eine persönliche Beziehung zu haben. Sein Großvater, ein Pfarrer, hinterließ ein Tagebuch, das ihm das Thema, an dem er dann zehn Jahre laboriert hat, geradezu aufzwang. Eine feine, humane Grundstimmung hat ihn, den gewissenhaften Forscher, aber nicht davon abgehalten, Nervosität und Neurasthenie in fast einem Dutzend Fachgebieten auf die Spur zu kommen. Manche Kritiker werden sagen, daß fixe Ideen eben immer bestätigt werden, das ist ja ihre Art – ich muß aber gestehen, daß ich Radkaus Auslotung des Wilhelminismus mit Hilfe der Steine Neurasthenie, Nerven und Nervosität absolut schlagend gefunden habe – so schlagend wie in meiner Studentenzeit Fritz Fischers „Griff nach der Weltmacht“, eine Erklärung des Weltkriegs 1914 nach den Gesetzen der Interessenpolitik. Radkau, den ich heute favorisiere, ist ein kritischer Schüler von Fischer – so viel Ironie steckt in der Geschichte der Wissenschaft. Andererseits haben wir in den vergangenen Jahren viel über die Psyche gelernt, und heute, wo so viele Menschen Gewichtsprobleme haben, weiß jeder, daß der Mensch nicht vom Brot allein lebt. Er braucht auch eine gesunde Umwelt, eine intakte Natur und ganz bestimmt keine Gentechnik. Nur ganz zart deutet Radkau eine Tradition der nervösen Sorge um den Zustand des Großen, Ganzen, aber auch des kleinen Selbst an, die uns Deutsche offenbar von anderen Europäern immer noch unterscheidet und uns immer noch mit unserer eigentlich abgelegten Geschichte verbindet.

Der Autor hat nicht nur die Medizin- und Technikgeschichte, er hat auch diverse Archive von Sanatorien und Versicherungen durchforstet. Leider hat das Buch zwar ein abenteuerlich umfangreiches Literaturverzeichnis am Ende, aber keinen Index, so daß man nicht einfach nachschlagen kann, wie Hitlers Nerven sich neben Maximilian Hardens Desavouierung von Eulenburg ausnehmen.

Dieser Freund Wilhelms II. gehört zum Schlag des weichen Wilhelminers, von dem man bislang noch nichts gehört hat. Als er einen hohen Posten bekommen sollte, weigerte er sich mit der Begründung, daß man aus einem Huhn keinen Adler machen solle... Radkaus Buch wimmelt von Anekdoten und Geschichten, mit denen man nicht nur liebe Vorurteile, sondern ganze Weltbilder zertrümmern kann. Nehmen wir zum Beispiel die feministische Weltsicht. Viel Tinte ist geflossen, um die Hysterie als Beleidigung der weiblichen Menschheit zurückzuweisen. Radkau weist nach, daß das männliche Äquivalent der weiblichen Hysterie die männliche Neurasthenie war. Man wußte das, man sprach darüber. Männer, Bismarck zum Beispiel, heulten, hatten Arbeits- und Potenzprobleme, Nervenzustände, Migräne und Zwangsvorstellungen. Sie waren dem Leben nicht gewachsen, sie litten wie die Frauen, die von ihm ausgeschlossen waren. Bemerkenswert auch, daß der Nervendiskurs keine Klassen und Parteien kannte. Arbeiter und Arbeiterinnen sollten ebenso wie Unternehmer und Professoren an den Nerven leiden können. Versicherungen und philanthropische Stiftungen errichteten Volksheilstätten – die Reichen sprachen bei Binswanger in Kreuzlingen am Bodensee vor.

Irgendwann und irgendwie mutierte die Neurasthenie von der Krankheit zum Kulturzustand. Aus dem subjektiven Leidensgefühl wurde die Idee geboren, daß nicht die Kur in Bad Kissingen, kein Arzt und keine Diät, sondern ein kollektiver Willensakt die Erlösung bringen würde. Was Radkau avisiert hat, ist nicht die Bindestrichspezialität Mentalitätsgeschichte, es ist wirklich Gesellschaftsgeschichte, so wie wir sie heute brauchen.

Joachim Radkau: „Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler“. Carl Hanser Verlag, München 1998, geb., 551 Seiten, 68 DM