■ Heute singt Guildo Horn in Birmingham und beweist der Welt endlich: Die Deutschen sind echt unverkrampft und total humorvoll
: Wir sind wieder wer

Endlich ist Elvis auch nach Deutschland gekommen. Augenblicklich ging ein „Ruck“ durch das Land, denn das Volk hat den „Meister“ sogleich erkannt. In der Vorausscheidung zum Grand Prix d'Eurovision de la Chanson haben die Leute von der Straße ihn mit 62 Prozent zu ihrem Repräsentanten gewählt. Traditionelle Volksvertreter wie der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck zeigten sich erschüttert: „Das ist eine Zahl, von der Politiker nur träumen können.“

Ausgestattet mit den subversiven Waffen Camp, Ironie und Spaß, fegte der neue Messias das Ancièn Régime hinweg: Ralph Siegel, der „Kohl des Schlagers“ (Tip), verlor schier seinen Kopf. Das sei ein „Sieg der Lockeren über die Spaßbremsen“, betonte des „Meisters“ Siegessong-Produzent Stefan Raab. Einen „Sieg der Jugendkultur“ nannte er es selbst. 1968 und die Maueröffnung schienen auf einen Tag zu fallen.

Seitdem fiebert die bislang „schweigende Mehrheit“ (Die Zeit) aufgelöst, begeistert, fast hysterisch auf den heutigen Abend hin. Denn heute abend, da geht ER, Guildo Horn, nach Birmingham und zeigt der ganzen Welt, daß wir Deutschen heutzutage wirklich total humorvoll und unverkrampft sind und unsere einzige Botschaft lautet: Piep, piep, piep, ich hab' dich lieb.

Wahnsinn: Jugend, Basisdemokratie, Ironie, Revolte, Spaß – Deutschland ist endlich richtig westlich geworden. Ist das so? Muß man nicht die Augen kräftig zukneifen, um so denken zu können? Ein Sieg der Jugendkultur? Auf der Bühne steht ein Pädagoge, Mitte dreißig, mit schütterem Haar, der das deutsche Liedgut der siebziger Jahre für ein Publikum neu inszeniert, das zu einem bedeutenden Teil ebenfalls in seinem Alter ist. Ein Sieg der Straße? Wenn man sich die Medienkampagne im Vorfeld anschaut, dann muß man das Schweigen der Mehrheit wohl eher als äußerst beredt bezeichnen. Insofern wirkte auch das ganze im Fernsehen übertragene Auswahlverfahren mit seinen durchgeknallten Moderatoren bereits wie die Siegesfeier für Horn.

Zu allem Überfluß privilegierte schließlich das TED-Verfahren nicht etwa die „schweigende Mehrheit“, sondern eine Gruppe, die mit modernsten Kommunikationsmitteln ausstaffiert war: die Handy-Besitzer. Und die Ironie, die Subversion? Horns neue Grand-Prix-Sonderedition „Danke“ unterscheidet sich beim Hören kein bißchen von einer gewöhnlichen Schlagerplatte. Die Texte bieten exakt den herkömmlichen Herz-Schmerz-Schmalz, die Melodien sind wie gehabt, und Michael Holm produziert die Stücke im dünnen Sound der 70er.

Könnte sich die Ironie dann vielleicht auf die Inszenierung beziehen? So scheint es. Anders als früher, als ein beamtenhaft zugeknöpfter Interpret vor einem Publikum aufspielte, das mit versteinertem Gesicht zackig mitklatschte, scheint Horn dem Schlager sowohl die subversive Camp- Ästhetik der Schwulenkultur als auch den rebellischen Spaß des Rock 'n' Roll eingehaucht zu haben.

Aber um Zersetzung und Rebellion geht es nicht. Horn übertreibt nicht etwa die Schlagerinszenierung selbst, sondern das schlechte Image des Schlagers bei der progressiven Jugend der letzten Jahrzehnte. Diese Musik galt, wenn man sich noch daran erinnert, als erledigt – als primitiv, geschmacklos, eskapistisch und auf eine symptomatisch eklige Weise deutsch. Horn nimmt nun einen Umweg über die schwule Camp- Ästhetik und stellt die Geschmacklosigkeit genüßlich zur Schau. Er nimmt einen weiteren Umweg über die esoterische Therapielust der ehemaligen Alternativszene und verhilft dem Eskapismus zu neuen Ehren: Er hält sich für einen „Schamanen“ und will dem Publikum zu einer heilsamen „Regression“ verhelfen. Und mit einem Augenzwinkern fühlt er sich in seiner Haut als „häßlicher Deutscher“ pudelwohl.

Während man in der Zeit fest davon überzeugt ist, daß mit Guildo Horn das „letzte Refugium der Witzlosigkeit der Postmoderne“ anheim fällt, stellt der „Meister“ selbst im Playboy fest: „Die Postmoderne ist vorbei.“ Horn selbst spricht überhaupt nicht von Camp und Künstlichkeit, im Gegenteil, er steht, wie er immer wieder betont, für den allermiefigsten und abgegriffensten aller Rock 'n' Roll-Mythen, „für Schweiß und Echtheit“. Und so haucht die angebliche Subversion durch Ironie und Spaß dem alten Schlagerkitsch eine zuvor fast undenkbare Authentizität ein. Ralph Siegel hatte wirklich niemand mehr abgenommen, daß er seine Lieder und sein Publikum wirklich liebt. Seine „Schlagerkunst“ allerdings wird uns auch nach der Revolution erhalten bleiben. Wie Guildo dem Playboy mitteilte, wird er vielleicht eines Tages mit Ralph Siegel zusammenarbeiten: „Wir brauchen Männer wie ihn.“

„Bleibt alles anders“: Guildo Horn ist die „affirmative Kultur“ der jungen, besserverdienenden „neuen Mitte“. Hier darf Mainstream nicht mehr einfach Mainstream sein, sondern er muß gleichzeitig den konsumistischen Wunsch nach Differenz befriedigen. Und so dienen die abgenutzten Gesten der Jugend- und Subkulturen – Subversion und Revolte durch Übertreibung, Ironie, Spaß, Stil – heute dazu, den gleichen alten Scheiß mit genau den gleichen Funktionen zu restaurieren. Erst das scheinbare Erlebnis der Überschreitung garantiert dabei ungetrübten Genuß. Auf eine ähnliche Weise ermöglicht die ständige Selbstironie Verona Feldbuschs ihrem vorwiegend männlichen Publikum, „Peep“ ungebrochen als Wichsvorlage zu benutzen.

Während heute die real existierende Demokratie täglich zerfleddert wird, hat eine von ihrem eigenen Leben begeisterte „neue Mitte“ ihr Demokratieerlebnis bei der Vorausscheidung zum Schlager-Grand-Prix. Selbst Leute, die in den letzten Jahren nichts mit Schlager am Hut gehabt haben, erzählen mit leuchtenden Augen, daß sie es toll finden, daß Siegel überrollt wurde – das verkniffene Symbol der Macht. Schon immer hatten all die hippen Mittdreißiger ja heimlich den Schlager gut gefunden, nun dürfen sie endlich dazu stehen.

Der neue „Meister“ aus Deutschland hat versprochen, daß er uns würdig vertreten wird. Ganz wie es der Bundespräsident forderte: ein „Ruck“ im Innern und „unverkrampft“ nach außen. Heute zeigen wir der Welt unser neues Gesicht, und im Herbst wird Gerhard Schröder Kanzler. Und wenn sich der Krampf dann gelöst hat, dann werden wir wissen, daß jede Hoffnung auf Veränderung eben nur ein Witz war. Mark Terkessidis