Dunkle Dachziegel zur Erinnerung

Im sächsischen Pirna entstehen Behindertenwerkstätten auf dem Gelände der ehemaligen Vernichtungsanstalt Sonnenstein, in der die Nazis 15.000 Menschen ermordeten. Eine Gratwanderung zwischen Gedenken und Gegenwart  ■ Aus Pirna Heide Platen

Durch den Raum geistert ein Witz, in dem irgendwie Spaghetti und Gruppensex vorkommen. Kantinensprüche eben. Es ist Mittagspause in den Pirnaer Werkstätten auf dem Sonnenstein. Der Mann am Nachbartisch hat sich statt der Spätzle nur eine Bockwurst geben lassen. Nun sitzt er schon 20 Minuten da, starrt das Würstchen an, nimmt es zwischen seine übergroßen Hände, dreht und wendet es hin und her. Er bricht es in zwei Hälften und schreit.

Im Saal schräg gegenüber hat die Arbeit für einen Teil der 180 Beschäftigten der Behindertenwerkstatt der Arbeiterwohlfahrt (AWO) auf dem Berg oberhalb der sächsischen Stadt Pirna wieder begonnen. Sie fertigen Schaltungen und Zubehör für die Werkzeugproduktion eines Elektrokonzerns. Er ist einer der drei Großkunden der Werkstatt, die Aufträge von 20 Firmen bekommt. Nein, das hier ist keine Beschäftigungtherapie, sagt der Technische Leiter Hubert Hampel: „Wir sind ein Industriebetrieb, Zulieferer wie jeder andere auch.“ Und das heißt, daß pünktlich und fehlerfrei geliefert werden muß: „Keiner guckt hier auf die Behinderten. Da wird eher mehr verlangt.“

Alle strengen sich an, die Qualitätskriterien zu erfüllen. Manche strengen sich zu sehr an. Sozialarbeiterin Anke Behnel: „Wir haben hier Leute dabei, die leben für ihre Arbeit.“ Sie seien stolz darauf, für Markenfirmen zu arbeiten: „Das bringt Identifikation und Selbstbewußtsein. Die Arbeit ist für die Menschen hier ein Wert an sich.“ Manche, so Behnel, weigerten sich sogar, zur Mittagspause zu gehen.

An einem der Fertigungstische schraubt der mongoloide Mirko Plastikgriffe für Bohrmaschinen zusammen. Viele schafft er nicht. Es macht ihm mehr Spaß, die Teile nach eigenen Mustern immer wieder neu zu ordnen. Die anderen rufen ihn gelegentlich aus seiner eigenen Ordnung zurück in die Produktionsordnung. Akkord wird nicht gearbeitet, obwohl es an manchen Tischen so scheint. Für die Langsamen sind Zeitpuffer eingebaut. Die Anforderungen sind jedoch „nach oben orientiert“ und die niedrigen Löhne nach Leistung bis zu einer Grenze von 470 Mark gestaffelt.

Tanja ist eine Übereifrige. Klein und schmal sitzt die 28jährige hinter dem großen Tisch. Ihr kluger Eulenblick ist konzentriert auf die winzigen Dichtungsringe gerichtet, die sie mit den Fingernägeln über Stahlbolzen zieht. Sie hat sich, sagt ihre Chefin Siegrid Grünberger, „schon Blasen an die Finger gearbeitet“. Tanja mag die Fürsorge nicht. Sie versteckt ihre Hände unter der Strickjacke.

Der Sonnenstein ist ein aus dem 13. Jahrhundert stammendes weitläufiges Festungsgelände. Schloß, Kirche und zahlreiche Nebengebäude kamen im Lauf der Jahrhunderte dazu. 1811 gründete der Reformpsychiater Ernst Gottlob Pienitz hier die seinerzeit sehr fortschrittliche „Sächsische Heil- und Versorgungsanstalt für Geisteskranke“. An diese Geschichte würde die Arbeiterwohlfahrt gerne wieder anknüpfen, wenn sie nur könnte. Wallmann: „Die Vergangenheit holt uns hier täglich ein.“ Von 1940 bis 1941 war Pirna-Sonnenstein eine Vernichtungsanstalt, in der die Nazis geistig und körperlich behinderte Menschen ermordeten, im Rahmen des Euthanasieprogramms T4.

Im Keller des Hauses C 16 wurden die aus anderen Anstalten in Bussen angelieferten Menschen mit Kohlenmonoxyd vergast, die Leichen in den Nebenraum gezogen und sortiert in solche, die gleich in einem der beiden Öfen verbrannt wurden, und solche, die Markierungen trugen: zum Ausbrechen der Goldzähne oder zum Sezieren im Dienst der medizinischen Wissenschaft. 15.000 Menschen waren in Pirna-Sonnenstein ins Gas gegangen, als die Gebäude in eine Eliteschule der Hitlerjugend und später in ein Lazarett umgewandelt und die Spuren des Massenmordes verwischt wurden. Gut ein Drittel des Personals von Pirna-Sonnenstein, Ärzte, Schwestern und Pfleger, die Arbeiter an den Öfen, in denen die Leichen verbrannt wurden, sowie Verwaltungsangestellte wechselten in andere Vernichtungslager.

Dieser Teil der Sonnensteiner Geschichte rief kurz nach der Wende die „Stiftung sächsischer Gedenkstätten“ und das örtliche „Kuratorium Gedenkstätte Sonnenstein“ auf den Plan. Beide bekamen Unterstützung von der Landesregierung. Während die meisten Gebäude einschließlich der Kirche von einem Münchner Großinvestor zur kommerziellen Nutzung erworben wurden, sollte das Gebäude C 16 – heute Haus 14 – zum einen einer Gedenkstätte vorbehalten sein, zum anderen von der Behindertenwerkstatt genutzt werden, die dringend neue Räume und Werkstätten brauchte. Die Kontroverse war unvermeidlich.

Stiftung und Kuratorium machten sich in dem von der DDR als geheimem Standort für die Flugindustrie genutzten Bauwerk auf mühselige Spurensuche. Sie fanden in dem mehrfach umgenutzten Haus den Vergasungsraum, den Standort der Öfen, stellenweise den alten, schwarzen Ölanstrich der Vernichtungskeller. Sie fanden im Dach auch die Stelle, an der der Schornstein den dicken Qualm der brennenden Leichen über Pirna in den Himmel geschickt hatte. All dies sollte vorsichtig kenntlich gemacht werden.

Der Interessenkonflikt der beiden künftigen Projekte unter einem Dach manifestierte sich unter anderem auf dem Dachboden. Die AWO hatte die Dachdecker bestellt. Die Praktiker der Behindertenarbeit wollten möglichst schnell umziehen und auf keinen Fall ein Dach, dessen Gedenkcharakter eine undichte Stelle für den abgerissenen Kamin vorgesehen hätte. Man einigte sich schließlich auf dunklere Ziegel. Diese Kenntlichmachung aber, so AWO-Geschäftsführer Martin Wallmann, „die sieht man jetzt nur von der anderen Seite der Elbe und auch nur dann, wenn man es weiß“. Die Wissenschaftler wollten Zeit für ihre Forschungen, die Pirnaer Werkstätten drängten auf einen schnellen Umbau. Pietät und Pragmatismus vertrugen sich schlecht.

Wollten die Gedenkstättenbefürworter eine schlichte, karge, würdige Umgebung, nur angedeutete Erinnerungslinien im kahlen Gebäude, so wünschten die Behindertenbetreuer helle, freundliche Räume für ihre Klientel. Maschinenlärm, Rufen, Lachen, Schritte aus den Werkstätten genau über dem Vergasungskeller, das störe Andacht und Trauer, fanden die einen. Das Recht der Lebenden gehe vor, sagten die anderen. Die AWO verstieg sich schließlich, die Behinderten und ihre Arbeit als „lebendes Denkmal“ verstanden wissen zu wollen. Behinderte als lebendes Inventar, fanden Historiker und Bauarchäologen, das sei unmenschlich.

Die Betroffenen und deren Eltern reagierten ungehalten auf den Streit. Sie wollten möglichst bald optimale Arbeitsbedingungen für die Werkstatt und scherten sich wenig um die Geschichte. Vermittlungsgespräche „bis auf Staatssekretärebene“ mußten geführt werden. Daß sich Planung und Bauarbeiten in seit 1992 andauerndem Hickhack immer wieder verzögerten, ist inzwischen sowohl Martin Wallmann als auch Boris Böhm vom Sonnensteiner Kuratorium peinlich. Die Schuld, so Wallmann diplomatisch, „lag auf beiden Seiten“. Böhm lobt, ebenso diplomatisch, „die mittlerweile sehr gute Zusammenarbeit“. Er hofft, daß das Zusammenleben in Zukunft „so reibungslos wie irgend möglich“ sein werde.

Die Gedenkstättenstiftung bekommt zwei Drittel des Dachbodens und den linken Flügel des Hauses 14. In Mittelbau und rechten Flügel zieht die Behindertenwerkstatt mit Verwaltung und Speisesälen ein. Die Produktionsstätten werden in zwei kleineren Nachbargebäuden untergebracht. Der im Dezember 1997 symbolisch gelegte Grundstein war schon fast wieder in Vergessenheit geraten, als Ende März nach über fünf Jahren Streit erste Bauarbeiten begannen. Bäume wurden gefällt. Wallmann hofft, daß das jetzt nicht auch noch die Naturschützer auf den Plan ruft.

Auch ohne das wird der künftige Hausfrieden fragil sein. Da ist die hohe Mauer hinter dem Gebäude, die von den Nazis zur Verdeckung des Todeshauses errichtet und später von der auf Geheimhaltung bedachten DDR noch erhöht wurde. Sie ist Bestandteil der Gedenkstätte und mittlerweile zum Erhalt mit Stahlstreben abgestützt. Die Behinderten finden das „trutzige Ding“ jetzt „noch bedrohlicher als vorher“. Nach dem Umbau wird ein Weg an ihr vorbei in den Speisesaal im Haupthaus führen, vorbei auch an der zugemauerten Pforte, aus der die Asche der Verbrannten den steilen Abhang hinunter in die Elbe geschüttet wurde. Auf der breiten Terrasse zwischen dem Eingang zur Gedenkstätte links und dem zur Werkstatt rechts wird es bei schönem Wetter mittags lebendig werden, wenn die Behinderten Pause machen. Das ist gut so, findet Wallmann, und daran will er trotz der Bedenken der Denkmalschützer nichts ändern.

Die Kantine auf dem Sonnenstein ist kein leiser Ort. Zwei Betreuer beruhigen den Mann, der seine Bockwurst anschreit. Tanja ist schon wieder bei der Arbeit, ihre Kollegen müssen „noch mal vor die Tür, eine rauchen“. Und noch mehr Nudelwitze erzählen, diesmal haben sie was mit „Würmern“ zu tun.