■ Die RAF, eine Versammlung von „Leninisten mit der Knarre“, war von ihrem Beginn an autistisch und im Grunde unpolitisch
: Ein Phantom gibt auf

Der bewaffnete Kampf ist schon längere Zeit zu Ende. Niemandem ist dies verborgen geblieben. Doch nun wissen wir es offiziell. Nicht amtlich, sondern aus dem Untergrund. Was noch aussteht, das ist das Echtheitssiegel der Behörden. Doch das wird mit hoher Wahrscheinlichkeit nachgeliefert werden, schließlich leben wir in einem deutschen Staat.

Es ist schon eine merkwürdige Koinzidenz der Ereignisse. Während Presse, Funk und Fernsehen „30 Jahre 1968“ begehen, platzt die Meldung vom Ende der RAF herein. In der Nacht vom 3. auf den 4. April 1968 wurden aus Protest gegen den Vietnamkrieg zwei Kaufhäuser auf der Frankfurter Zeil angezündet – ein Fanal, mit dem ein Prozeß eingeleitet wurde, der im Mai 1970 zur Baader-Befreiung und damit zur Gründung der RAF führte. Und nun taucht am 20. April 1998 das Auflösungsschreiben auf.

Was immer daran zu kritisieren ist – zu spät, zu halbherzig, zu selbstgerecht –, es ist gut, daß es existiert. Es zeigt, daß ein Rest an Entscheidungsvermögen und Selbstverantwortung vorhanden geblieben sein muß, der eine bewaffnete Gruppe dazu bringt, eine vor 28 Jahren begonnene Geschichte nun auch kollektiv zu Ende zu führen. Damit legen die Ehemaligen der RAF mehr Beweglichkeit an den Tag als zum Beispiel Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt. Schmidt reagiert, unabhängig davon, ob es sich um die Rolle der deutschen Wehrmacht, sein Verhältnis zum Staat Israel oder sein Verhalten während der Schleyer-Entführung handelt, wie ein Panzer, der auf keinen Fall von seinem einmal eingeschlagenen Kurs abweichen will.

Was wollte die RAF, und was ist aus ihr und ihren Zielen geworden? Im Rückblick ist es unverzichtbar, an die von ihren Kombattanten deklarierten Ansprüche zu erinnern. Die entscheidende politische Klammer bestand für die Gründergeneration in der subjektiven Verknüpfung der NS-Vergangenheit mit der Gegenwart des Vietnamkrieges.

Gegenüber den von den USA in Südostasien im Namen der westlichen Freiheit begangenen Verbrechen nicht nur nicht schweigen, sondern handeln zu wollen, lautete das Ursprungsmotiv für den bewaffneten Kampf.

Damit sollte zugleich ein Beispiel dafür geliefert werden, wie sich die eigene Elterngeneration gegen die Ermächtigung der Nazis hätte zur Wehr setzen sollen. Auch wenn diese Zielsetzung bei Aktionen zu Beginn der siebziger Jahre einige Male geäußert wurde, so kann doch kein Zweifel daran existieren, daß die Geschichte der RAF von einem außerordentlich hohen Maß an Selbstbezüglichkeit geprägt ist. Bereits die blutig verlaufene Befreiung Andreas Baaders war eine von infantilen Zügen bestimmte Trotzreaktion. Wie ein Menetekel stand sie über dem, was in den Jahren und Jahrzehnten darauf gefolgt ist.

Worum ging es? In erster Linie um Logistik, um Banküberfälle, Waffenbeschaffung, Versuche zur Befreiung gefangener Mitglieder und – nachdem dies immer aussichtsloser geworden war – um eine Kette von aufreibenden Hungerstreiks, mit denen die Zusammenlegung der Häftlinge erreicht werden sollte.

Politische Motive wurden so weit zurückgedrängt, daß seit Mitte der siebziger Jahre kaum noch jemand auf die Idee gekommen ist, überhaupt noch danach zu fragen. Die RAF ist in ihren Grundzügen autistisch und deshalb weitgehend unpolitisch gewesen. Zu keinem einzigen Zeitpunkt hat sie wirklich zur Politik gefunden. Politische Erklärungen und Begründungen wirkten von Anfang an aufgesetzt, wenig glaubwürdig und zu einem erheblichen Teil austauschbar.

Wie in einem zwangsneurotischen System blieb die RAF auf ihre Logistik reduziert und geriet wie von einer inneren Notwendigkeit getrieben immer mehr in die Fänge von Geheimdiensten und deren Operationen.

Wenn sich ihre Akteure heute in einem Anflug von Selbstkritik darüber beklagen, daß man zu ausschließlich auf den bewaffneten Kampf gesetzt und keine angemessene politische Organisierung betrieben habe, dann wirkt das unfreiwillig komisch. Die Arroganz, mit der jahrelang jede Kritik von außen abgeschmettert worden ist, hat nicht unerheblich zu der Isolierung mit beigetragen, aus der es nun offenbar keinen Ausweg mehr gegeben hat.

Nun im nachhinein so tun zu wollen, als habe es nur an einem „legalen Arm“ gefehlt, der für die nötige politische Vermittlung und soziale Einbindung des bewaffneten Arms hätte sorgen können, vernebelt nur noch einmal, warum das „Konzept RAF“ von Anfang an zum Scheitern verurteilt war.

Die Selbstbezeichnung Rote Armee Fraktion war Teil eines Täuschungsmanövers. Mit der angeblichen Absicht, der seinerzeit auseinanderfallenden Außerparlamentarischen Opposition zu signalisieren, daß man sich als Teil eines größeren Kampfzusammenhanges verstehe, wurde nur versucht, einzelne und Gruppen in die Illegalität zu ziehen und auf die bereits vorgegebene Linie zu zwingen. Nie wurde ein Zweifel daran gelassen, daß man sich die politische Definitionsgewalt in irgendeinem Fall würde nehmen lassen. Die RAF- Leute waren „Leninisten mit Knarre“, grundsätzliche Gegner der Demokratie.

Der Auflösungsprozeß der RAF hat sich über einen langen Zeitraum und in mehreren Stufen hinweg erstreckt. Er führte von der Gefangennahme des harten Kerns 1972 über die Selbstmorde in Stammheim 1977 und die Verhaftung von Christian Klar und anderer führender Köpfe 1982 zur Attentatsverzichtserklärung 1992. Am wichtigsten scheint jedoch der Fall der Mauer und die Auflösung der DDR und des gesamten Ostblocks 1989/90 gewesen zu sein.

Auch wenn noch nicht im einzelnen aufgezeigt werden kann, was der Zusammenbruch der poststalinistischen Regime für die bewaffneten Gruppierungen bedeutet hat, so wirft das doch ein bezeichnendes Licht auf einen grundlegenden Zusammenhang. Im Gegensatz zu der in der Öffentlichkeit vertretenen Ideologie, die von beiden Seiten nicht als Kritik, sondern nur als Ablehnung und Verachtung zu kennzeichnen war, gab es offenbar Elemente einer wechselseitigen Funktionalisierung.

Ob es damit getan war, ehemaligen RAF-Angehörigen in der DDR einen Rückzugsraum anzubieten, in dem sie vor den Nachstellungen westlicher Behörden sicher sein konnten, oder ob es mehr als das war, das werden künftige Forschungen von Historikern erst erweisen müssen. Wolfgang Kraushaar