Kampf um die Wiege der Bewegung

Jahrelang haben sich die Aborigines gegen den Abriß eines Gebäudes in Sydney gewehrt. 1938 fand hier der erste Protest der Ureinwohner statt. Daß das Haus nun unter Denkmalschutz steht, gibt der Initiative Auftrieb  ■ Aus Sydney Eric Chauvistré

Die Zentralen der größten australischen Firmen sind nur drei Häuserblocks entfernt. Seit das Wohnen in der City wieder begehrt ist, sprießen in der Elisabeth Street am Rande von Sydneys Geschäftsviertel die Türme mit Luxusappartements aus dem Boden. An einigen Stellen dienen die alten Fassaden der Jahrhundertwende als pittoreske Eingänge zu glitzernden Neubauten. Am Gebäude 150–152 ging der Bauboom bisher vorbei. Hinter einer viktorianischen Fassade führt eine Treppe in einen Kinosaal mit roten Plüschsesseln, Stuckdecke und knarrenden Dielen. Im letzten Jahr war der Saal ungenutzt, jetzt werden hier wieder Filme gezeigt.

Doch der Mietvertrag für das „Mandolin“-Kino ist jederzeit kündbar. Im Erdgeschoß stehen die Pokermaschinen des Clubs für griechisch-zypriotische Einwanderer. Ein Raum, ungemütlich wie unzählige ähnlicher Spiel- und Trinkhallen in Australien. Der Club kaufte das 1906 vom Deutsch-Australischen Verein „Concordia“ errichtete Gebäude in den 60er Jahren. Die meisten seiner Mitglieder zogen seitdem in die Außenbezirke: Der Club macht Verluste und möchte das Grundstück verkaufen. An Interessenten mangelt es nicht – solange das Gebäude einem Neubau Platz machen darf.

Dem Abriß hat sich eine kleine Gruppe jedoch erfolgreich in den Weg gestellt und damit an ein bislang wenig beachtetes historisches Ereignis erinnert. In dem Saal fand der erste organisierte Protest der entrechteten Ureinwohner Australiens statt. Die Bürgerrechtler William Cooper und James Ferguson versammelten hier am 26. Januar 1938 Abgesandte von Aborigines aus fast dem gesamten Kontinent. „Es war die erste Bürgerrechtsversammlung dieses Landes, wenn nicht sogar der Welt“, erzählt Jenny Munro. Nicht Martin Luther King hat laut Munro die Bürgerrechtsbewegung erfunden, sondern William Cooper, der prominenteste politisch aktive Aborigine der 30er Jahre.

Munro paßt schlecht in das folkloristische Klischee von Australiens Ureinwohnern. Faxgerät und Handy bestimmen ihren Alltag. Fernab von der roten Wüste im Inneren des Landes leitet sie die Interessenvertretung der Aborigines in Sydneys Stadtteil Redfern. Nur eine S-Bahnstation vom Zentrum der australischen Metropole entfernt, ist das heruntergekommene Viertel Heimat für die meisten Aborigines der Stadt. Statt traditioneller Kunst der Aborigines finden Besucher hier Graffiti mit Parolen für den Überlebenskampf der Ureinwohner. Junkies und Alkoholiker spiegeln die triste Wirklichkeit des Alltags städtischer Aborigines wider. Bis zu den Olympischen Spielen im Jahr 2000 soll das Viertel deshalb verschwinden.

Im kargen und dünnbesiedelten Norden Australiens sind Aborigines an der Verwaltung großer Naturparks beteiligt, teilen ihr Wissen mit weißen Rangern und Touristen. Auch dort leben viele von ihnen unter schwierigen Bedingungen, doch ihr Lebensstil wird von der Regierung geachtet und, wenn auch mit geringen Mitteln, staatlich gefördert. Die Verbundenheit mit Orten ihrer Geschichte blieb ihnen weitgehend erhalten.

Anders im fruchtbaren Südosten des Landes, wo die Aborigines bald nach der britischen Kolonisierung im Jahre 1788 aus ihren traditionellen Siedlungsgebieten vertrieben, in Lager gesteckt oder umgebracht wurden. Die Nachkommen der wenigen Überlebenden ließen sich in den Städten nieder. In Redfern fanden die Entwurzelten eine neue Heimat. Trotz Gewalt und Drogen ist der Stadtteil zum Symbol für den Überlebenswillen derjenigen Aborigines geworden, die nicht in der Wüste als Gemeinschaft überlebten.

Der historische Versammlungsraum in der Elisabeth Street symbolisiert für Munro und andere politisch aktive Aborigines aus Redfern, daß ihre Geschichte nicht mit der Vertreibung endete. „Viele Menschen können kaum verstehen, daß Aborigines auch eine städtische Geschichte haben“, erklärt Gisele Mesnage, die den Anstoß zum Schutz des Gebäudes in der Elisabeth Street gab. Nachdem sie 1992 bei Archivarbeiten auf die historische Funktion des Gebäudes aufmerksam wurde, brachte Gisele Mesnage Aborigines, Denkmalschützer und Historiker zum Kampf für den Erhalt des Hauses zusammen.

Während das offizielle Australien in Sydneys Straßen 1938 den 150. Jahrestag der weißen Kolonisierung des Kontinents feierte, begingen Aborigines in dem lange vom Abriß bedrohten Saal einen „Day of Mourning and Protest“. An diesem „Tag der Trauer“ forderten sie in einer Resolution „die vollen Bürgerrechte und die gesellschaftliche Gleichstellung“ für Aborigines. „In ihrem politischen Denken“, glaubt Mesnage, „waren Cooper und seine Mitstreiter ihrer Zeit um 30 Jahre voraus.“

Nach den damaligen Gesetzen hätte das historische Treffen in der Elisabeth Street eigentlich gar nicht stattfinden dürfen. Seine Organisation machten die restriktiven Verordnungen für Aborigines nur unter großen persönlichen Risiken möglich. Ohne Erlaubnis der Verwalter war es Aborigines nicht einmal gestattet, die „Reservate“ zu verlassen. Wer dennoch reiste und sich an politischen Aktionen beteiligte, riskierte auch das Sorgerecht für seine Kinder. Dennoch schafften es die Organisatoren, über hundert Vertreter aus den südöstlichen Staaten Australiens nach Sydney zu holen.

Während die damaligen Forderungen teilweise noch heute aktuell sind, erzielten die Organisatoren einen ersten unerwarteten Erfolg. Die Presse berichtete ausführlich über die Forderungen, und Premierminister Joseph Lyons empfing wenige Tage später eine Delegation der Versammlung. Es war der Beginn eines langen Weges. Bis 1967 mußten die „ersten Australier“ warten, bis sie sich Staatsbürger ihres Landes nennen durften. Die gesellschaftliche Emanzipation dauerte noch länger. Bis Ende der 60er Jahre war es für Aborigines unmöglich, Cafés oder Schwimmbäder zu besuchen. Bis 1993 hielt die Rechtsprechung am absurden Prinzip des „terra nullius“ fest: der Vorstellung, die europäischen Kolonialisten hätten Australien unbewohnt vorgefunden. Erst seit einem Urteil des Obersten Gerichtshofs von 1993 können Aborigines einen Rechtsanspruch auf „traditionelle“ Gebiete anmelden – sofern sie eine „ununterbrochene Beziehung“ zu dem Land nachweisen können.

Nachdem vor zwei Jahren die rechtspopulistische Abgeordnete Pauline Hanson ins Bundesparlament gewählt wurde, erhielt der Streit um das Gebäude einen neuen Charakter. Der konservative Premierminister John Howard hat es bisher vermieden, sich von Hansons rassistischen Parolen zu distanzieren. In der Frage der Rückgabe von Landrechten an die Ureinwohner versucht seine Regierung, die Zugeständnisse der sozialdemokratischen Vorgängerin zurückzunehmen.

Gerade in Zeiten des wieder zunehmenden Rassismus hält Gisele Mesnage es für wichtig, die Erinnerung an das historische Treffen in der Elisabeth Street zu bewahren: „Erstmals seit der britischen Kolonisierung 1788 nahmen Aborigines ihre Angelegenheiten selbst in die Hand.“ 1995 beantragte die Initiative deshalb den dauerhaften Schutz des gesamten Gebäudes. Unterstützung dafür kam zunächst von allen Seiten: dem Rat der Stadt Sydney, der staatlichen Stiftung „National Trust“ sowie der Kommission für das nationale Erbe, der „National Heritage Commission“. Die Registrierung als Denkmal bei den Behörden des Bundesstaates Neusüdwales schien Formsache.

Die Labour-Regierung ließ den historischen Wert des Hauses von einer Expertenkommission noch einmal prüfen. Auch deren Bericht unterstützte das Anliegen der Bürgerinitiative. Im November 1996 folgte die Entscheidung des Ministers für Städtebau, Craig Knowles: Das Gebäude dürfe abgerissen werden, die Fassade bleibe stehen. Als Auflage sollte in der Nähe des historischen Versammlungsraums ein neuer, kleinerer Saal errichtet werden „unter weitgehender Verwendung der alten Materialien“. Damit, so der Minister, habe die Regierung einen Kompromiß zwischen den Belangen der Besitzer und der Aborigines gefunden.

Doch die Initiative verstand das als Niederlage. Ein neuer Saal aus alten Steinen sei kein historisches Gebäude, und die Fassade habe ihrer europäischen Architektur wegen bereits unter Schutz gestanden. Mesnage entdeckte gar einen Verstoß gegen das Antidiskriminierungsgesetz: „In den zwanzig Jahren seit Inkrafttreten des Denkmalschutzgesetzes wurden über 600 Gebäude in Neusüdwales für schützenswert erklärt. Nicht ein einziges davon wegen seiner Bedeutung für die Geschichte der Aborigines.“ Ein Abrißantrag der Eigentümer lag bereits vor, und es sah so aus, als würde ein Stück australischer Geschichte aus dem Zentrum Sydneys verschwinden.

Am 13. Februar dieses Jahres kam es dann zur überraschenden Wende. Auf Seite 760 des offiziellen Mitteilungsblatts der Regierung des Bundesstaats Neusüdwales fand sich eine Verordnung, mit der das umstrittene Gebäude vollständig unter Denkmalschutz gestellt wurde. Keine Presseerklärung des Ministeriums, kein öffentliches Statement des Ressortchefs: Wenige Tage nach dem 60. Jahrestag des historischen Treffens in der Elisabeth Street, und angesichts einer bevorstehenden Verwaltungsgerichtsentscheidung, hatte der Minister wohl etwas beschämt seine Entscheidung revidiert.

Nach diesem kaum noch erwarteten Erfolg will die Initiative weitermachen. Das Gebäude soll gekauft werden, um dort ein Museum über den Kampf der Aborigines einzurichten. „Erst wenn Australien reif genug ist, um von Bürgerrechtlern wie William Cooper zu lernen“, so Jenny Munro, „wird auch der wahre historische Wert des Versammlungssaales in der Elisabeth Street verstanden werden.“ Das Land brauche noch viel Zeit, bevor es sich seiner Geschichte gänzlich stellen könne.