Vermittlung ist oft Scheitern

■ Stephane Hessel, französischer Widerstandskämpfer und UN-Diplomat, im Gespräch über seine bewegte Lebensgeschichte und die Möglichkeiten der Diplomatie im Algerienkonflikt

taz: Als Sie 1924 mit ihrer Familie nach Frankreich übergesiedelt sind, haben Sie da als sogenannter boche Ressentiments zu spüren bekommen?

Stéphane Hessel: Ich persönlich nicht. Das war ein Glück, eine Chance. Aber natürlich war Deutschland in den zwanziger Jahren noch immer das Land, das einen versehrt hatte, man hatte schon gewisse Ressentiments gegenüber den Deutschen. Das hat sich dann leider nicht aufgelöst. Aber als kleiner Junge habe ich nicht darunter gelitten. Ich habe mich auch nicht besonders als Deutscher gefühlt, der französisch wird, sondern als ein französischer Schüler, und ich bin dann auch ganz natürlich in die französische Staatsbürgerschaft hineingewachsen.

Haben Sie nach der Rückkehr aus der Deportation gezögert, Deutschland zu besuchen?

Nein, ich wäre sicher nach Deutschland gekommen, wenn es sich ergeben hätte. Aber es war eben so, daß ich gleich nach Ende des Krieges zu den Vereinten Nationen gegangen bin, also in New York gelebt habe. So daß ich von Deutschland etwas entfernt war. Man muß auch bedenken, daß Deutschland noch nicht Mitglied der Vereinten Nationen war.

Und als ich dann zum ersten Mal wieder nach Deutschland kam, das war 1953, da war schon die ganze Geschichte von neuen Beziehungen geprägt und ganz lebendig. Ich fand es notwendig, daß die beiden Völker zusammenarbeiten. Ich hatte keine Ressentiments.

Nach Ende des Krieges haben Sie die Diplomatie gewählt. Warum sind Sie damals nicht in eine Partei gegangen, um sich zu engagieren?

Also nach Ende des Krieges stand erst mal zur Wahl, ob ich mehr meiner Philosophenkarriere nachgehen sollte oder eher handeln wollte, und ich bevorzugte es dann, als Diplomat zu wirken. Und mein Glück war, daß man mich gleich bei den Vereinten Nationen aufgenommen hat, so daß ich während dieser ersten Nachkriegsjahre bereits mit der Verfassung der Erklärung der universalen Menschenrechte betraut war. Und auch Leute in New York traf, die sich als Internationalisten verstanden. Das wurde für mich auch ein „angle“, eine Art und Weise, die Diplomatie zu betrachten, Diplomatie nicht nur als Befürworten eines besonderen Landes, sondern eher das Zusammenarbeiten von vielen.

In Ihrem Buch schreiben Sie: „Jede Vermittlung ist zum Scheitern verurteilt.“

Man erlebt natürlich in einem langen Leben immer wieder, daß es nicht so glückt, wie man es sich wünscht. Dieser Zusammenhang zwischen dem, was man sich wünscht, und dem, was man erreicht, bedeutet eben, daß man nie aufgeben sollte. Man darf nie sagen: Nun ist es wieder mal nicht gelungen, also wird es nie gelingen. Sondern im Gegenteil. Es ist nicht gelungen, aber es hat sich etwas in Gang gesetzt. Und jetzt im 81. Lebensjahr erscheint es mir, daß alles, wofür ich mich eingesetzt habe, zwar nicht alles gleich sofort entstanden ist, wie ich es mir gewünscht hätte, aber Schritt für Schritt Fortschritt macht. Und das ist für mich die Genugtuung. Es lohnt sich, sich einzusetzen.

Sie schreiben, daß Sie von Ihrer Mutter den Drang geerbt hätten, gefallen zu wollen. Was sich ja gut mit der Diplomatie in Einklang bringen läßt. Auf der anderen Seite ist der Vermittler ja jemand, der zwischen allen Stühlen sitzt. Ist das nicht ein Widerspruch?

Ich würde sagen, es ist ein besonderer Ehrgeiz. Gefallen zu wollen kostet viel Energie, man muß sich Mühe geben, um zu gefallen. Man muß immer wieder an den anderen denken und hoffen, daß man ihn genügend versteht, um ihn überzeugen zu können. Gefallen ja, aber wofür?

Wenn man nur gefallen will, um sich selbst durchzusetzen, dann ist das noch kein großer Spaß. Wenn man aber gefallen will, um etwas zu erreichen, woran man hängt oder glaubt, dann muß eben über das Gefallen hinweg der Mittler in Aktion treten, um den anderen mit einzubeziehen. Man soll ihm nicht nur gefallen, man soll ihn womöglich auch überzeugen; gefällt man ihm, bedeutet das auch, daß er zusammen mit einem selbst vorwärts schreitet. Für mich bedeutet die Vermittlung, daß man das Gutwollen eines anderen nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Sache erreicht. Ich habe viele Versuche gemacht, mein ganzes Leben lang, die oft gescheitert sind. Aber selbst wenn sie scheitern, bleibt immer etwas lebendig. Dies hat man versucht, es ist nicht gelungen. Aber das nächste Mal wird es gelingen.

Kommt denn Frankreich als ehemaligem Kolonialherrn eine besondere Vermittlerfunktion im Algerienkonflikt zu?

Also einerseits ist Frankreich sicher das Land, das am wenigsten in Algerien etwas tun kann. Denn die Vergangenheit zwischen den beiden Ländern sieht so aus, daß die Algerier sich immer wieder dagegen sträuben, wenn Frankreich eingreifen will. Darum ist es auch wichtig, daß sich weniger Frankreich, sondern möglichst Europa mit Algerien beschäftigt. Für Frankreich ist die Zukunft Algeriens jedoch eine besonders wichtige Frage. Nicht nur aus geschichtlichen Gründen, sondern auch aus demographischen Gründen. Es gibt mittlerweile zwei Millionen Franzosen algerischer Abstammung. Damit diese in der französischen Gesellschaft ihren Platz finden können, müssen wir uns um die Zukunft dieses Landes kümmern. Ich bin immer noch der Vorsitzende der „Association France- Algérie“, und es gibt viele Algerier, die nach Frankreich kommen und auch umgekehrt. Es ist zur Zeit schwierig, aber es gibt Beziehungen, und die gilt es aufrechtzuerhalten.

Wann waren Sie das letzte Mal persönlich in Algerien?

1988, aber natürlich habe ich Freunde, die dorthin gehen und die zurückkommen. Die Beziehungen bleiben aufrecht. Algerien ist ein sehr wichtiges Element meines Lebens geworden, ich habe fünf Jahre dort als Botschaftsattaché gearbeitet.

Sie fordern also auch eine unabhängige internationale Untersuchungskommission?

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Möglicherweise ist es nicht so sehr ein externe, internationale Untersuchungskommission, die die Antwort auf die Fragen findet, die man sich stellt. Möglichst sollte sie aus Algerien selbst hervorgehen. Eine parlamentarische Kommission. Aber wenigstens sollten die vom Ausland, die sich dafür interssieren, die Möglichkeit haben mitzumachen. Es ist nicht nur die „international commission of inquiry“, die einige von uns natürlich befürworten, es geht um das ganze Prinzip einer größeren Offenheit seitens der algerischen Regierung.

Sicher wäre so eine algerische Kommission wünschenswert. Aber gibt es genügend unabhängige, unerschrockene Parlamentarier?

Ich glaube, es ist weniger unrealistisch, als man es sich manchmal vorstellt. Bei jeder Regierung, bei der algerischen wie bei den meisten Regierungen, die noch kein richtiger Rechtsstaat sind, hat man immer den Verdacht, daß diejenigen, die gewählt worden sind, eben nur darum gewählt worden sind, weil die Regierung es zugelassen hat. Aber: Im algerischen Parlament gibt es schon verschiedene Parteien, die ihre eigenen Ideen haben. Die können zusammen irgend etwas ausarbeiten. Und die algerische Bevölkerung ist tapfer genug, um zu verlangen, daß man sie anhört, die Frauen und auch andere Gruppen, Menschenrechtsligen, all diese könnten daran arbeiten, daß man über die Situation in Algerien mehr weiß, ohne daß man das Souveränitätsprinzip der algerischen Regierung verletzt, die sagt, es ist unsere interne Sache und wir sind dafür verantwortlich. Welche Regierung gibt es denn heute, die es akzeptieren würde, daß eine internationale Kommission für Menschenrechte bei ihnen aktiv würde? Es ist eben so, daß wir noch in einer Phase der Menschenrechtsarbeit stecken, wo zwar die Menschenrechtskommission in Genf gewisse Waffen besitzt, und das wird vielleicht die gute Mary Robinson, die High Comissioner für Menschenrechte geworden ist, auch durchsetzen können, daß Experten nach Algerien geschickt werden. Aber es bedeutet alles eine sehr heikle Situation, wo man sehr vorsichtig vorgehen muß, wenn man nicht die Regierung völlig gegen sich haben will.

Es gibt Stimmen, die behaupten, die Armee würde Massaker tolerieren oder gar anzetteln, um die Islamisten zu denunzieren. Ist da etwas Wahres dran?

Natürlich trägt die Regierung keine direkte Verantwortung für die schrecklichen Geschehnisse, wenn die Islamisten ganze Dörfer zerstören. Aber eine Regierung, die versucht, sich zu behaupten, wird immer versuchen, den Gegner zu infiltrieren, mit dabeizusein. Oder wenn es eine Armee gibt, die nicht so groß und zahlreich ist, um überall gleichzeitig zu sein, wird sie vielleicht hie und da nicht eingreifen, auch wenn sie eigentlich eingreifen sollte. Es ist bestimmt wahr, daß noch viel getan werden muß, damit die Regierung sich so verhält, wie man es von einer menschenrechtlichen Demokratie verlangen kann. Aber zu sagen, die größte Schuld liegt bei der algerischen Regierung, wäre ein Irrtum. Man soll eher der Regierung helfen, daß sie so zu handeln versteht, daß sie auch im Ausland Glaubwürdigkeit erwirbt.

Algerien ist nicht Somalia und ganz sicher kein Fall für einen Blauhelm-Truppeneinsatz. Sie kennen sicherlich den Streit bei den Grünen hier in Deutschland über eine Beteiligung der Bundeswehr an diesen internationalen militärischen Einsätzen?

Ich glaube, es ist lange schon Zeit, daß man nicht immer wieder darauf zurückkommt, daß Deutschland sich vor 50 Jahren Sachen geleistet hat, die man ihm vorwerfen muß und kann. Wenn man Truppen braucht hier oder da für etwas, das im Sinne der Weltordnung wichtig ist, da sollte kein Vorbehalt sein, daß die Deutschen mitmachen. Das bedeutet nicht, daß man überall Truppen hinsenden sollte. Man muß da sehr vorsichtig sein. Aber wenn es hier oder da so aussieht, daß ein Eingriff oder ein präventiver Eingriff wichtig ist, sagen wir im Kosovo oder Mazedonien, ist ein deutscher Trupp ebenso wie ein französischer, wie ein englischer zu befürworten. Interview: Sabine Seifert