Kritik der anderen Leute

Wer ist der Adressat all der Reden an die Nation? Die Intellektuellen arbeiten nicht zuletzt an ihrer Unterscheidung von den anderen Leuten. Eine kleine Allegorese eines Blechschadens im Straßenverkehr  ■ Von Michael Rutschky

Gestern kam unser Freund R. mit zweistündiger Verspätung in die Hauptstadt zurück; wir hatten uns Sorgen gemacht.

Ja, bedauerlich, an dem beflissen gleich so umbenannten Dr.- Konrad-Adenauer-Platz in Rostock kam es zu einem Auffahrunfall. So ein blitzendes japanisches Kampfboot, wie unser Freund R. sich ausdrückt, nippte von hinten kurz an seiner französischen Jolle, was unserem Freund R. als Ruck und Krach ins Bewußtsein trat. Er verstand. Er drückte die Warnblinkanlage, zog die Handbremse an und stieg, sorgfältig die Mitteilungen des Rückspiegels über den übrigen Autofluß beachtend, der sich gleich teilte, aus. Auf Anhieb interessiert ihn die Geschichte, die eben beginnt.

Gesteuert hatte das Kampfboot eine mitteljunge Frau, das blonde, eigentümlich dünne Haar heftig aufgebläht nach den bekannten Vorbildern aus der amerikanischen TV-Serie. Grau und unglücklich schaute sie aus; unterwürfig akzeptierte sie den Vorschlag von R., die Polizei den Unfall aufnehmen zu lassen, seine Heckklappe schaue miserabel aus – statt bloß die Adressen auszutauschen und die Versicherungen zu benachrichtigen.

Während R. sich hilflos nach einer Telefonzelle umsieht – keine in der Nähe –, hat sie flugs das Handy aus dem Handschuhfach gegriffen und tippt die korrekte Nummer ein, kann auch genau sagen, wo wir uns befinden, ist überhaupt, während ihr die Hände, mit denen sie jetzt eine Zigarette herausfingert, zittern – „Ich bin völlig fertig“, wie sie sagt –, über das Schema der kommenden Ereignisse genau informiert, die unser Freund R. unbedacht auf sich zukommen läßt.

Die mitteljunge Frau im Dallas- Look, erzählt er, war selber Polizistin, heute privat in einer quälenden Familienangelegenheit unterwegs (zu der sie infolge des Unfalls zu spät kommt). An anderen Tagen könnte sie es sein, die aus dem VW-Bus steigt – nach dem wir ausspähen –, um auf die „Unfallpartner“, wie der Terminus technicus lautet, zuzugehen, den eigenen Namen zu sagen und die erforderliche Prozedur einzuleiten.

Deren Beschreibung soll nun unterbleiben. Obwohl unser Freund R. in ihrem Verfolg zum ersten Mal in seinem Leben einem Alkoholtest unterzogen wurde, über dessen Ergebnis er sich kurz heiße Sorgen machte wegen der Ausschweifungen letzte Nacht... Grundlos: 0,00 Promille.

Weiterhin erzählt werden muß aber hier, daß die Dallas-Polizistin es war, die ihm aus einer technischen Verlegenheit mit seiner französischen Jolle heraushelfen konnte. Während sie noch in dem Polizeiwagen einvernommen wurde, wollte er schon weiterfahren – doch als er den Zündschlüssel drehte, machte der Motor nur ein kraftloses Mühmmühmmühm. Die Warnblinkanlage! dachte R. in Panik. Sie hat die Batterie ausgetrunken! – „Sie müssen nur ein bissel zuwarten“, beruhigte ihn seine Unfallpartnerin, als er zu dem Polizeiwagen um Hilfe zurückgestrebt war, „dann hat sie sich erholt.“ So war es.

Ich möchte diese Geschichte einer Allegorese unterziehen, das Verhältnis der Intellektuellen zu den anderen Leuten betreffend.

Es ist noch gar nicht so lange her, da hätte unser Freund R. schlecht über die Polizistin geredet: Er hätte sie – in eine der Phantasmagorien verstrickt, die Intellektuelle so leicht für triftige Analysen der Lage halten – für den bedingungslosen Ausverkauf der DDR an die BRD mitverantwortlich gemacht; die Polizistin hätte das Volk verkörpert, das „Deutschland einig Vaterland“ heraussang, vom Fernsehen durch Schlaraffenlandphantasien verführt, mit libidinös gerötetem Gesicht zum ersten Mal ein Kampfboot für die Probefahrt besteigend und sich, um das Herzensauto zu erwerben, hoffnungslos verschuldend, was das Verhältnis der DDR-Bevölkerung zur BRD allegorisch zu verkörpern vermag.

Gern macht die Intelligenzija die anderen Leute zum Gegenstand der Kritik, wenn nicht ihres Mißtrauens oder gar der Verachtung. Warum strotzt Benidorm oder Mallorca so scheußlich von Bettenburgen? Weil die anderen Leute diese Stätten mit ihrem Massentourismus überziehen. Was verpestet die Luft der Innenstädte und durchlöchert die Lufthülle des Planeten, damit die Sonne uns mit Melanomen traktieren kann? Die Automassen, von denen die anderen Leute in ihrer libidinösen Verblendung nicht erkennen wollen, wie sie die natürlichen Lebensbedingungen der Menschheit gefährden. Wer hat über mehr als anderthalb Jahrzehnte den dicken Kohl zum Regierungschef bestimmt? Unser Freund R. und seinesgleichen gewiß nicht. Die anderen Leute sind es gewesen.

Gern steuert unser Freund R. aus seinem reichen Vorrat weitere Materialien zur Kritik der anderen Leute bei. Wer war es denn, der, statt nach der militärisch erzwungenen Niederlage Hitlerdeutschlands diese verbrecherische Vergangenheit aufzuarbeiten, sich besinnungslos in die Arbeit, den Wiederaufbau und das Wirtschaftswunder stürzte? Und wer hatte manches an der kriegerischen Eroberung Europas durch die Deutschen als eine Art Abenteuerurlaub genossen? Von anderen Freuden zu schweigen...überhaupt, wer brachte die Nazis an die Macht? Wer jubelte dem Führer zu, vergnügte sich bei Kraft-durch-Freude-Reisen ins Mittelmeer und in die norwegischen Fjorde und ignorierte die Naziverbrechen? Unser Freund R. und seinesgleichen gewiß nicht – daß es natürlich die anderen Leute gewesen seien, schlußfolgert er freilich bereits spöttisch, mit Selbstironie: vermutlich ist auch dies eine Phantasmagorie, in die Intellektuelle sich so leicht verstricken, während sie mit sachlicher Analyse der Lage befaßt zu sein vermeinen.

Soll man, damit die Intellektuellen, statt von ihnen zu träumen, mit den anderen Leute in Realitätskontakt treten, solche schockhaften Zusammenstöße wünschen, wie unser Freund R. in Rostock einen erlebt hat, bei dem seine Unfallpartnerin, die Polizistin mit der TV-Frisur, zugleich eine der seinen durchaus überlegene praktische Intelligenz bewies?

Immer wieder haben die Intellektuellen auf diese Gelegenheiten gelauert. Bertolt Brecht hielt den Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 für ein solches Rencontre: „alles kam darauf an“, träumte er in sein Tagebuch, „diese erste begegnung voll auszuwerten. das war der kontakt. er kam nicht in form der umarmung, sondern in der form des faustschlags, aber es war doch der kontakt.“ Bekannt ist auch der Jubel, mit dem die Intellektuellen im August 1914 ihre eigene Verschmelzung mit dem deutschen Volk begleiteten, auf daß man gemeinsam den Weltkrieg beginne. Heißen die anderen Leute das eine Mal die Arbeiterklasse, das andere Mal das deutsche Volk, so markiert das zwar eine wichtige Unterscheidung, tut hier im Augenblick aber nichts zur Sache.

Denn weit wichtiger ist den Intellektuellen halt ihre eigene Unterscheidung von den anderen Leuten (mit denen sie dann in Kontakt treten respektive verschmelzen wollen). Genau besehen, arbeiten die Intellektuellen ununterbrochen an dieser Unterscheidung, auch wenn sie die anderen Leute, statt bloß zum Gegenstand, zum Adressaten ihrer Äußerungen machen.

Das ist die Tradition der Aufklärung. Die Überzeugungen, die Lebensformen der anderen Leute analysierend, verhelfen ihnen die Intellektuellen aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit heraus. Das ist noch die Tradition des Marxismus: Die Parteiintellektuellen erkennen, weil sie die Lehren der Klassiker gründlich studiert haben, was die Arbeiterklasse aufgrund ihrer objektiven Klassenlage will, und informieren die Parteiführung über den richtigen Kurs (oder wie man das Modell skizzieren will). Übrigens ist das Modell auch im Lager gegenüber zu erkennen: in seinen schauerlichen „Reden an die deutsche Nation“ erzeugt der Philosoph Fichte dieselbe, indem er sie dergestalt anspricht.

Mit solchen aufklärenden oder beschwörenden Anreden der anderen Leute gerät man als Intellektueller freilich sofort in die größten Schwierigkeiten. Man stelle sich vor, unser Freund R. hätte am Dr.- Konrad-Adenauer-Platz in Rostock die aufgefahrene Polizistin mit der Dallas-Frisur darüber aufzuklären begonnen, daß die in ihren Kreisen weit verbreitete Leidenschaft für klasse Autos letzten Endes die Lufthülle des Planeten und damit unser aller Lebensgrundlagen zerstöre. Zu Recht hätte die Polizistin ihn darauf hingewiesen, daß er ja schließlich selber eins fahre – mit dem er sich, siehe Warnblinkanlage und Startschwierigkeiten, offenbar auch noch denkbar schlecht auskenne! Und da wolle er sie über die Lufthülle des Planeten und unser aller Lebensgrundlagen belehren?! – Man könnte an dieser Stelle der Allegorese die ganze Geschichte des Scheiterns der Sozialistischen Einheitspartei eintragen, die eben keineswegs privilegierten Zugang zum Bewußtsein und zur Lage der anderen Leute hatte, sie vielmehr durch ihre eigenen Deduktionen ersetzte, bis die anderen Leute sich das nicht mehr gefallen ließen. Die Deduktionen der völkisch orientierten Intellektuellen ignoriert man am besten a priori, schon unter uns Intellektuellen.

Normalerweise bleiben Kontakte aus, auch wenn die Intellektuellen die anderen Leute zu adressieren versuchen. Die Auseinandersetzungen unter Intellektuellen befassen sich mit Inhalt und Form dieser Adressen, es handelt sich sozusagen um Diskussionen im Lehrerzimmer oder in der Lehrplankommission, was man den Schülern, den anderen Leuten wie beibringen solle? Statt des Fernsehens mal wieder ein gutes Buch. Statt der anglo-amerikanischen Leichterzählung, wie sie gegenwärtig geschätzt wird, mal wieder schwere deutsche Klassik. Statt einfach der Medienpräsenz des Kanzlerkandidaten zu verfallen, seine (spärlichen) Programmäußerungen inhaltlich hinterfragen. Dem DM- Nationalismus und der anhaltenden Fremdenfeindlichkeit der anderen Leute entgegenzutreten, indem du dich demonstrativ deines zum Wirtschaftsstandort verkommenen Landes schämst – was die anderen Leute unberührt läßt, aber unter den Intellektuellen ein ordentliches Buhei hervorruft.

Niemals werden die anderen Leute von diesen Anreden erreicht. Stets verfangen sich die Intellektuellen sogleich in ihren Auseinandersetzungen untereinander. Ich erkenne die ganze Geschichte für ebenso heftig bewegt wie völlig verfahren. Vielleicht kämen wir heraus, wenn wir die Intellektuellen als die anderen Leute der anderen Leute verstehen lernten?