Liebe, Leid und Lastwagenfahrer

Ibo, melde dich: Der kurdische Arabesk-Sänger Ibrahim Tatlises ist der populärste Showmaster und Entertainer der Türkei. Seine Erfolgsgeschichte markiert den tränenreichen Aufstieg des anatolischen Arbeitsmigranten – ein Mythos in Film und Musik  ■ Von Daniel Bax

Seit Tagen prangt im Hintergrund der „Harald Schmidt Show“ ein großformatiges Porträt des schnurrbärtigen Sängers Ibrahim Tatlises, Spitzname Ibo, mit der zweisprachigen Aufforderung: „Ibo, bitte melde dich!“ Halb irritiert, halb geschmeichelt notierte die türkische Tageszeitung Hürriyet auf der Titelseite ihrer Deutschlandausgabe, daß der „berühmte“ Harald Schmidt höchstpersönlich während seiner Sendung die Einladung an den türkischen Megastar sogar auf türkisch aussprach.

Auch wenn Hürriyet da Harald Schmidts Hang zum absurden Running Gag aufgesessen sein dürfte – seine Feststellung, die „Ibo Show“ des türkischen Stars sei das Pendant zur „Harald Schmidt Show“, ist gar nicht mal so falsch. Doch Ibrahim Tatlises ist in der Türkei mehr als nur ein populärer Showmaster – er ist, als Sänger und Schauspieler, vor allem die Nummer eins des Arabesk.

Aber was ist Arabesk? Grob gesagt, jene Mischung aus türkischem Blues und orientalischem Schlager, die jeder noch so ignorante Musikhasser hierzulande schon einmal gehört haben dürfte – spätestens bei der Autowäsche des türkischen Nachbarn. Arabesk erkennt man, im Unterschied zum aufgeräumten Türk-Pop, an den meist weinerlich-dramatischen Melodien und dem verschnörkelt leidenden Gesang, der sich in höchste Höhen windet und alles Leid der Welt zu beklagen scheint.

Tatsächlich triefen die Texte von Sehnsucht, Verzweiflung und Hader mit dem Schicksal, das es so schlecht mit einem gemeint hat. Als Erfinder der Gattung gilt Orhan Gencebay. Um dessen Synthese aus türkischer Klassik, Volksmusik, westlichen Arrangements und arabischen Elementen zu beschreiben, wurde 1969 der Begriff Arabesk erstmals geprägt. Während Gencebay deswegen bis heute als Godfather des Genres verehrt wird, hatte Ibrahim Tatlises wohl am meisten Anteil an der Popularisierung.

Drehbuchreife Karriere eines „kirros“

In den frühen Siebzigern aus dem südostanatolischen Urfa nach Istanbul ausgewandert, soll er, so will es die Legende, dort zunächst einige Jahre auf Baustellen gearbeitet haben, bevor er dank seiner „süßen Stimme“ (so die wörtliche Übersetzung seines Nachnamens) als Sänger „entdeckt“ wurde. Dieser kometenhafte Aufstieg, seine Erfolgsstory, bildet auch die Kernhandlung der meisten Filme, in denen „Ibo“ in der Hauptrolle meist sich selbst spielte und sein Leben besang – in wechselnden Varianten, aber stets mit unglücklichem Ende. Doch auch wenn Filmmythos und Realität bei Arabesk- Stars dicht beieinander liegen: Ibrahim Tatlises ist längst mehrfacher Millionär, der sein Geld gewinnbringend in der Bau- und Touristikbranche angelegt hat.

Seine Filme dagegen handeln, wie fast alle sogenannten Arabesk- Filme, vom Scheitern. Sie zeigen in tragischer Weise die Unfähigkeit des Helden, selbst mit Erfolg und Geld, in der Stadt zurechtzukommen. Grund dafür ist eine nicht zu kompensierende Dorfmentalität: einmal Bauer, immer Bauer. Oder besser gesagt kirro – der wenig schmeichelhafte kurdische Ausdruck fand den Weg in die türkische Umgangssprache und bezeichnet den Macho mit bis zum Bauchansatz offenem Hemd und ungehobelten Manieren.

Dieser Rolle bemüht sich Ibrahim Tatlises auch im richtigen Leben gerecht zu werden: Lustvoll kolportiert die Klatschpresse, wenn er mal wieder mit dem Gesetz in Konflikt gekommen ist – wegen Haschischbesitzes, wegen Prügelei mit seiner Freundin oder weil er Schlägertruppen auf Kontrahenten hetzen ließ. Im Film wird das integre Landei dagegen regelmäßig durch skrupellose Arbeitgeber, korrupte Feinde und schöne Frauen ausgebeutet. Die unüberbrückbare Kluft zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen traditionellem Ehrbegriff und moderner Moral, zwischen Land und Stadt wird in holzschnittartigem Dualismus gezeichnet, die Handlung ist voller Emotion und masochistischer Erotik.

Der Boom dieser Filme, wie auch der Arabesk-Musik, setzte in den Siebzigern ein. Das Aufkommen von Kassetten- und später Videorekordern trug dabei wesentlich zur Verbreitung bei. Denn aus dem offiziellen Mediensystem, dem staatlichen Fernsehen und Radio, blieb Arabesk bis vor wenigen Jahren verbannt – bis mit dem Entstehen privater Radio- und Fernsehstationen ohnehin alle Dämme ins Rutschen kamen. Davor war Arabesk – hier machen die Wörter noch Sinn – Subkultur und Underground.

Der Lkw als Wiege des Arabesk

Warum Arabesk trotz immenser Popularität so lange Zeit als tabu galt, dazu muß man ziemlich weit ausholen – fast bis zur Gründung der Türkischen Republik. Denn damals setzte der Großversuch ein, einer neuen, äußerst heterogenen Nation eine gemeinsame Volksmusik zu verschreiben, sie gleichzeitig aber an den modernen respektive westlichen Geschmack heranzuführen. Dieser kemalistische Reformgeist stieß allerdings an seine natürlichen Grenzen, je weiter er sich von seinem Zentrum entfernte – in der anatolischen Provinz drehte man lieber zu den ägyptischen Sendern, wenn das Staatsradio TRT nur noch Tschaikowsky spielte.

Seit in den fünfziger Jahren eine intensive Binnenwanderung in die Großstädte einsetzte, nach Istanbul, Ankara und Izmir, haben sich die Verhältnisse zwischen Stadt und Land jedoch grundlegend verschoben – unter dem Druck der Zuwanderung erlebten die Metropolen ihre Verdörflichung durch wild wuchernde Vorstadtslums, die Verstädterung der Dörfer erfolgte durch den Ausbau des Verkehrsnetzes. Die Lastwagen, die Stadt und Land verbanden, bezeichnete der Soziologe Murat Belge als „Wiege des Arabesk“. Denn die arabischen Sender, die von den Fahrern gern gehört wurden, boten, so Belge, das „Substratum für die Verbreitung des Arabesk in der Türkei“. Was daran nun wahr ist, sei einmal dahingestellt. Fest steht, daß Arabesk häufig als importiertes Phänomen gehandelt wird – der Name deutet schon darauf hin. Gerade unter den linken Intellektuellen, die den Kurs Richtung Verwestlichung am meisten unterstützten, galt Arabesk lange als Betriebsunfall türkischer Kulturpolitik, als Auswuchs der Degeneration, ja als Symptom des Scheiterns des kemalistischen Reformmodells überhaupt.

Ein Symbol der suburbanen Türkei

Assoziiert wurde Arabesk nicht von ungefähr mit den rasant sich ausbreitenden Vorstadtsiedlungen an den Rändern der Metropolen, den sogenannten gecekondus – auch sie ein Zeichen des Scheiterns zentralistischer Planung. Dort, so die Vorstellung, sammeln sich die entwurzelten Arbeitsmigranten aus den Dörfern Anatoliens und bedauern bei Alkohol, Arabesk und Fladenbrot ihr Los. Das Leitmotiv der unerfüllten Liebe, das in Arabesk-Texten immer wiederkehrt, läßt sich auch als ein Abgesang auf jene vergebliche Hoffnung auf sozialen Aufstieg lesen. Allerdings, so der Hauptvorwurf, bietet Arabesk diesen urbanen Outsidern nur Schicksalsergebenheit und Fatalismus als Lösungsmodell. Die Texte projizieren eine düstere und schmerzvolle Welt, der man ausgeliefert ist als Spielball der eigenen Gefühle wie der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Daß die meisten Arabesk-Stars ursprünglich aus den kurdisch und arabisch geprägten Regionen im Südosten stammen, aus Adana oder Diyarbakir vornehmlich, unterstreicht das Image von Arabesk als Musik der Marginalisierten. Ein Interpret wie Ibrahim Tatlises, mit seinem schweren kurdischen Akzent, erscheint dabei nicht nur als Symbol der suburbanen Türkei, sondern als Repräsentant einer ganzen Region. Nach Aufhebung des Sprachverbots 1994 sang er sogar ein paarmal in seiner Muttersprache, war dann aber doch zu sehr Geschäftsmann, um auf die Minderheitenkarte zu setzen.

Ein „Symbol des gesellschaftlichen Aufstiegs der Kurden“ sei Ibrahim Tatlises, schrieb der Publizist Can Kozanoglu. Ein kurdischer Journalist drückte es etwas anders aus: „Wenigstens haben wir den Türken unseren schlechten Geschmack aufgedrückt.“

Weit mehr als nur Film und Musik, ist Arabesk eine Ästhetik, ein Lebensstil, eine ganze urbane Kultur. Das städtische Gegenstück zum Fernfahrer ist der Minibusfahrer, der auf seinen Fahrten zwischen Vorstadtsiedlung und Fabrik nicht nur die obligatorische Arabesk-Kassette einlegt, sondern auch sein Gefährt mit typisch türkischem Kitsch ausstaffiert: Amulette gegen den bösen Blick, bonbonbunte Postkartenbilder, mehrfarbig schillernde Plastikaufkleber, Plastikrosen, Perlmuttnippes.

Es ist bezeichnend, daß selbst diese Form der Autofolklore nach dem Putsch von 1980 – neben allem anderen, was irgendwie den Ruf des Subversiven hatte – verboten wurde: ein letzter Versuch der Geschmackskontrolle. Genauso bezeichnend ist aber auch, daß für Arabesk mit der folgenden Özal- Ära der öffentliche Durchbruch kommen sollte. Özal, selbst ein Parvenü, machte Arabesk salonfähig, indem er sich mit den Stars der Szene umgab, sie und ihre Musik für Wahlwerbung einspannte – spektakulär etwa, als Ibrahim Tatlises 1990 die Präsidentengattin Semra Özal bei ihrem Staatsbesuch in Aserbaidschan begleitete. Diese Form der Aneignung machte Arabesk den intellektuellen Kritikern vollends suspekt. Als geflügeltes Wort wurde Arabesk zum Synonym eines reaktionären Backlashs der Peripherie gegen zentralistische Reformbestrebungen, zum Kennwort der kruden Mischung aus wildem Wirtschaftsliberalismus und kulturellem Restauratismus unter Özal.

Die endgültige Anerkennung beförderte in den Neunzigern dann die Einführung privater Radio- und TV-Kanäle, die nicht mehr im gleichen Maße von staatlicher Kontrolle abhängig sind. Heute läuft Ibo im Privat-TV auf allen Kanälen: zum einen in der wöchentlichen Ibo-Show, eine der populärsten Unterhaltungssendungen überhaupt, zum anderen derzeit in der Heimatserie „Firat“ auf einem anderen Sender. Im Vorabendprogramm werden seine alten Arabesk-Filme recycled, und in den Arabesk-Charts steht sein neuestes Album „At Gitsin“ einmal mehr weit oben – nur angefochten von Orhan Gencebay, der gerade seine Songs von 1968 bis 1983, Klassiker also, auf CD wiederveröffentlicht hat.